Der vor kurzem verstorbene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki war der Meinung, in der Literatur gäbe es nur zwei Themen, die Liebe und den Tod, und alles andere sei Mumpitz.

Wie ein Meer aus Liebe und Tod kommt Margarita Kinstners "Mittelstadtrauschen" daher. Aber "mit der Liebe ist das so eine Sache. Vater und Mutter kann man sich nicht aussuchen, in eine Familie wird man schließlich hineingeboren. Aber wie ist das mit der großen Liebe (oder auch mit der kleinen)? Schicksal, sagen die weißgelockten Damen, deren Männer schon seit Jahren unter der Erde liegen. Das ganze Leben, nichts als Schicksal." - So steht es programmatisch zu Beginn des Romans. Leichtfüßig plaudernd und vergnügt erzählt Kinstner Lebens- und Liebesgeschichten voller wehmütigem Witz und eröffnet eine Welt skurriler Begegnungen, merkwürdiger Zufälle und verpasster Chancen in der "Mittelstadt" Wien.

Warum kann die alte Hedi Brunner ihre Töchter nicht lieben? Dafür aber den jungen Gery, der ihr täglich das "Essen auf Rädern" bringt? Warum rennt Maries Vater mit einer nach Mandeln duftenden Sexgummipuppe unter dem Arm in die Straßenbahn und spricht danach kein Wort mehr? Warum wollte Joe sterben, obwohl seine Freundin Marie seine große Liebe war? "Selig die Verliebten, denn ihnen gehört das Himmelreich." Warum lässt sich Joe bei seinem selbstmörderischen Sprung in den Donaukanal von seinem besten Freund filmen?

"Der Tod geht um in Wien, aber das ist nichts Neues." Wie plant man eine Testamentseröffnung als Pratervergnügen der Erinnerungen? "Erinnerungen sind eine dumme Sache. Immer wieder rotzen sie Vergangenes hoch, wie ein Kettenraucher am Morgen den Schleim, der sich tags zuvor in seinen Lungen festgesetzt hat."

Und "wenn man keine Antwort bekommt, werden die Sätze gleich nackt, bekommen etwas Exhibitionistisches." Doch in Kinstners Sätze kann man sich verlieben. "Ob es vielleicht gar nicht so sehr darum geht, dass man einander liebt oder nicht liebt, sondern vielmehr darum, ob man ähnlich denkt." Aber "Hirngespinste werden selten zu Ehemännern".

Wie beiläufig erlebt der Leser lustige, tragische, schräge, von den Romanhelden unbemerkte Zusammentreffen. Wie bunte Perlen auf einer Schnur reihen sich die Geschichten tragischer Helden aneinander. Und auch die vielen Konjunktive können den Lauf der Geschichten nicht aufhalten. Stattdessen eröffnen sie zahlreiche Paralleluniversen. "Bevor du hinsiehst, ist alles möglich. Die Möglichkeiten überlagern sich, existieren gleichzeitig nebeneinander. So auch in unserem Leben. Wir entscheiden uns jede Sekunde neu . . . Kleine Rädchen, die im Leben in Gang gesetzt werden, verändern alles." Alltägliche Abnormitäten.

Mit subtilem Witz, viel Bitterkeit und einer großen Portion - für eine junge Autorin ungewöhnlicher - Lebensweisheit eröffnet der Roman tragikomische Beziehungsgeflechte.

Mitunter schleichen sich bundesdeutsche Ausdrücke zwischen die wunderbar wienerischen Wendungen. Entrückte Formulierungen und faszinierend schöne Vergleiche ziehen den Leser in den Bann. Sachlich nüchtern und blumig ausgeschmückt fügt die Autorin den Dingen neue Bedeutungsschichten hinzu. Kinstner beobachtet und beschreibt sehr genau, bietet viel zum Nachdenken und Nachfühlen. "Ein Kasperltheater, wie das Leben!"