Wer nun zu den Bedauerlichen gehört, die noch nie ein Buch von Hermann Burger gelesen haben, möge als Einstieg in das Werk am besten die 1985/86 in Frankfurt gehaltene Poetikvorlesung "Über die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben" wählen. Leserfreundlich durchschreitet Burger darin sein bis dato erschienenes Werk, auch wenn man ihm nicht jede poetologische wie biografische Auskunft unkritisch abkaufen sollte. Ausgehend von seinen frühen Erzählungen kommt Burger darin zu sprechen auf sein Debüt "Schilten", das er 1976 als Resultat mehrjähriger Umarbeitungsdurchgänge vorlegte. Die Geschichte um einen vom Tod besessenen Lehrer, der seine bemitleidenswerten Schüler mit Lektionen wie Friedhofskunde oder der Absolvierung eines Scheintoten-Praktikums quält, war eine clevere Variation auf Romane wie "Frost" oder "Verstörung", in denen Thomas Bernhard derangierte Protagonisten ein düsteres Weltbild erschaffen ließ.
Das Vorbild Bernhard
Burger ließ nie einen Zweifel daran, dass die Lektüre von Bernhard sich als Geburtshilfe für die eigene Literatur erwiesen hatte. In einer Parallelaktion zu Bernhard erschrieb sich der Schweizer Schriftsteller einen eigenwilligen Stil in Form jener grotesken Wortmasken, die er seinen durchweg gestörten Erzählfiguren anlegt, welche sich den Ballast ihrer Existenz von der Seele zu reden versuchen. In "Schilten" nimmt dies die Form eines ausufernden Rechtfertigungsmonologs an, nachdem die Schulinspektorenkonferenz dem todespädagogischen Treiben das verdiente Ende bereitet hat.
Literarisch weniger bedeutsam ist die Erzählung "Diabelli". Sie exerziert paradigmatisch die Grundfesten der Burgerschen Weltsicht und seines Kunstverständnisses, derzufolge das Leben ein eleganter Betrug und die Kunst vor allem ein geschickter Schwindel ist. "Ich gebe gerne zu, dass mir das Circensische wichtiger ist als der Alltag der Normalität, dass mich das Magische ungleich mehr fasziniert als die wahre Physik der Dinge", bekannte Burger in einer Preisrede.
Der Niederschrift gingen umfangreiche Recherchen im Umfeld professioneller Zauberkünstler voraus, deren Tricks Burger zwar erlernte, aber zugleich nicht in seinem Text verraten durfte, denn er hatte den Magischen Eid abgelegt. Dafür verblüffte er später gerne Journalisten, Verlagsleute und Kritiker mit seinen Zauberkunststücken, was auch insofern einen tieferen Hintersinn hatte, da der Schwindel zweifelsohne auch jenes Gefühl war, das Burger beim Blick in sein Inneres befiel.
Krankengeschichte
Deutlich autobiografischer als man angesichts der artifiziellen Anlage des Textes annehmen könnte, fällt der Roman "Die künstliche Mutter" aus, in dem Burger sein psychosomatisches Leiden, das hier auf den Begriff "Unterleibsmigräne" gebracht wird, zum Thema macht. Ort der Handlung ist ein zwischen Realität und Erfindung oszillierender Heilstollen tief im Inneren eines Gebirgsmassivs, der den Genesungssuchenden Abhilfe von ihren Leiden bringen soll.
Burger hat - wie weit dies stimmt, können wir kaum bewerten - ein gestörtes frühkindliches Verhältnis zu seiner gefühlskalten Mutter für seine Probleme verantwortlich gemacht. Die allumfassende Krankengeschichte seines Protagonisten wurde ergänzt durch genaue Recherchen in der Kurwelt von Badgastein, um jenen oszillierenden Zustand zu erschaffen, indem das Reale wie phantasiert erscheint, und das Erfundene den Status eines Faktums gewinnt.
Am traurig vorzeitigen Ende des Burgerschen Werks steht, wie gesagt, "Brunsleben", die Geschichte des Tabakfabrikanten Hermann Arbogast Brenner, mit der sich der Zigarrenenthusiast Burger eine Art fumatorischer Wunschbiografie angedichtet hat. Noch unverhüllter als in den anderen Büchern ist dieser "Stumpenroman" eine Konfession seines Leidens sowie eine emphatische Anklage gegen Familie und Ehefrau. Dass wir die biografische Ebene entwirren sollen oder können, scheint zweifelhaft. Es reicht vollauf, den Roman als große literarische Meisterleistung zu lesen. Unklar ist, in welche Richtung sich das Unterfangen der Tetralogie hätte entwickeln sollen. Viele, allzu viele Fragen bleiben offen. Sicher sagen lässt sich nur das eine: Auf dieser Erde war Hermann Burger nicht zu helfen.
Uwe Schütte ist Dozent für Deutsche Literatur an der Aston University, Birmingham. 2014 erschien sein Buch "Figurationen. Zum lyrischen Werk von W. G. Sebald", Edition Isele, Eggingen.