Als 2006 "Wie der Soldat das Grammofon repariert" erschien, der Debütroman des 1978 geborenen Saa Staniić kam damit nicht nur ein ganz neuer, eigenwilliger Ton in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, sondern auch ein neues Thema, nämlich der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien, vor dem der Autor mit seiner Familie 1992 nach Heidelberg geflohen war. Zugleich führte Staniić einer Gattung frisches Blut zu, die zwar auf eine große Tradition zurückblickt, aber in der Gegenwart nicht wirklich viele Freunde hat: dem Schelmenroman. Gekonnt (und mit mitunter fast enervierender Naivität) erzählte da der junge Aleksandar, wie der Krieg schleichend die Idylle des Friedens zersetzte, wie aus Freundschaft Hass und aus Nachbarn erbitterte Feinde wurden. Mit aller Konsequenz durchzog den vor Erzähllust nur so strotzenden Geschichten-Reigen die kindliche Perspektive, was den Schrecken umso subtiler ins Bewusstsein des Lesers transportierte.
Auch der neue Roman, für den sich Staniić acht Jahre Zeit gelassen hat - im heutigen Literaturbetrieb dürfen sich solcherlei Gemächlichkeit eigentlich nur "etablierte" Autoren wie Christoph Ransmayr leisten -, wagt sich an eine Gattung, die zwar noch etwas häufiger zu finden ist, aber nicht unbedingt als "state of the art" gilt: den Provinzroman. Und wo wäre - zumindest in Deutschland - mehr Provinz als in der Uckermark nordöstlich von Berlin? Fürstenfelde heißt das Dorf zwischen zwei Seen, und man darf es getrost als fiktionales Konglomerat aus real existierenden Orten mit dem Präfix "Fürsten-" betrachten. Es ist ein sterbender Ort. Die Tankstelle hat dicht gemacht, auch die einst sieben Gaststätten, und so trifft man sich eben improvisiert in der Garage bei Ulli auf das eine oder andere Bier.
Eineinhalb Neonazis bevölkern den Ort, es gibt ein "Haus der Heimat", in dem das Dorfarchiv untergebracht ist, einen Landmaschinenverleih, einen Fährmann (der aber tot ist), einen Glöckner, und dann ist da noch Frau Kranz, die nachtblinde Malerin, die seit 70 Jahren nichts anderes als Fürstenfelde malt. Vor allem aber ist da das Annenfest: "Was wir feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt sich, nichts endet oder hat genau an diesem Tag begonnen. Die Heilige Anna ist irgendwann im Sommer, und die Heiligen sind uns heilig nicht mehr. Vielleicht feiern wir einfach, dass es das gibt: Fürstenfelde. Und was wir uns davon erzählen."
Die Nacht vor dem Fest ist diesmal eine ganz besondere. Die Glocken sind verschwunden, und im Dorfarchiv wurde eingebrochen. Gestohlen wurde nichts, doch die dort aufbewahrten Geschichten und Erzählungen, Mythen und Legenden sind nach draußen entkommen und geistern nun durchs Dorf. Und so erzählt Saa Staniić in diesem "Reigen" nicht nur Geschichten von Dorfbewohnern, sondern auch aus der ferneren und jüngeren Vergangenheit. Genauer: Das Dorf erzählt sich selbst.
Das "Wir" ist eine nicht näher spezifizierte kollektive Erzählinstanz, die viel von den Menschen weiß, gerne kommentiert und problemlos die verschiedensten Perspektiven einnehmen kann (sogar die einer Füchsin). Das macht die Lektüre erst etwas mühsam und verwirrend, aber sobald man sich darauf einlässt, entwickelt sich daraus ein Erzählpanorama, wie man es lange nicht gelesen hat. Ganz beiläufig entstehen wundervolle Porträts, ob nun von Lada, dem jungen Wilden, Herrn Schramm, dem ehemaligen NVA-Offizier, der mehr Gründe gegen das Leben als gegen das Rauchen findet, oder Frau Schwermuth, die das Haus der Heimat verwaltet und nicht nur unter ihrem kolossalen Übergewicht leidet.
Anders als in seinem Debüt setzt Staniić seine Fabulierkunst viel kontrollierter ein, seine Sprache bleibt wunderbar lakonisch-prägnant. "Vor dem Fest" ist literarische Heimatkunde im besten Sinne: voller Witz, mit genauem Blick, tiefsinnig und von einer unglaublich großen Zuneigung zu den Menschen (und Tieren), die dieses nächtliche Panoptikum bevölkern - in dem eine Astrologin sogar Schiller zitieren darf: "Wer sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt, der wird die Wahrheit nie erobern." Staniič hat es gewagt- und gewonnen.
Sasa Staniić: Vor dem Fest. Roman. Luchterhand, München 2014, 316 Seiten, 20,60 Euro.