"NW", das sind die zwei Buchstaben, die im britischen Postleitzahlencode für "North-West London" stehen. Und vom Nordwesten der Stadt erzählt auch Zadie Smiths Roman, genauer gesagt von Kilburn, dem Arbeiterstadtteil, in dem sie als Tochter eines englischen Fotografen und einer jamaikanischen Mutter, die es als Model nach London verschlagen hatte, aufgewachsen ist. "Er sah sich das Liniennetz der Tube an. Es spiegelte seine Wirklichkeit nicht wider. Für ihn war das Zentrum nicht Oxford Circus. Es waren die hellen Lichter der Kilburn High Road." Zadie Smith macht Kilburn mit seinen kulturellen Gegensätzen - eine irisch-stämmige Bevölkerung, Afro-Karibianer und die klassisch-britische Arbeiterschicht teilen sich die Gegend - zum Zentrum ihres Romans, zum Herzen Londons. Die vier Hauptfiguren Leah, Keisha (Natalie), Felix und Nathan wachsen in einer Hochhaussiedlung auf, wie es sie in jeder Großstadt gibt, doch ihre Geschichten sind einzigartig und unverwechselbar. Anhand der vier Charaktere spürt Zadie Smith dem Leben der Bewohner in diesem Mikrokosmos nach und entwirft ein faszinierendes Panorama menschlicher Sehnsüchte, Ängste und Erinnerungen.
Keisha Blake und Leah Hanwell sind unzertrennliche Freundinnen. Leah, irischer Abstammung, arbeitet als einzige Weiße unter lauter farbigen Frauen in einem Büro des Viertels und ist mit Michel, zur einen Hälfte Algerier, zur anderen aus Guadeloupe, glücklich liiert. Einzig die Kinderfrage sorgt für Missstimmung, will er doch unbedingt Kinder, während sie selbst sich mit Mitte dreißig oft noch als großes Kind fühlt.
Keisha, die stets nach Perfektion strebende, von karibischen Einwanderern abstammende junge Frau hat ihren Vornamen auf Natalie ändern lassen. Sie hat mit ihrem Mann zwei Kinder, wohnt als erfolgreiche Anwältin in einer viktorianischen Villa und gibt vornehme Dinnerpartys.
Wie Zadie Smith vom Aufeinanderprallen ganz unterschiedlicher Kulturen, alternativer Lebensarten und -entwürfe erzählt - bei Leah steht die Idee, das Sich-Ausprobieren im Mittelpunkt, bei Keisha (Natalie) der Erfolg, das Nach-Plan-Agieren - und diese auch formal und stilistisch umsetzt, ist ebenso beeindruckend wie gelungen. So spiegelt sich die Zielstrebigkeit und Erfolgsorientiertheit von Keisha in 185 Paragraphen oder Erzählabschnitten streng formal gegliedert wider, während Leahs Leben dem Leser in einer sprunghaften, frei oszillierenden Art und Weise näher gebracht wird: auf erzählende Passagen folgen Songtexte, Gedichte, Listen oder unerwartete Dialoge. Diese Kunstgriffe ermöglichen es der Autorin, für jede Romanfigur einen passenden erzählerischen Rahmen zu finden.
Mit "Zähne zeigen" hatte Zadie Smith sich im Jahr 2000 als ebenso originelle wie meisterhafte Erzählerin moderner Lebenswelten vorgestellt und war über Nacht zu einem internationalen Literaturstar geworden. Mit "London NW" ist ihr ein nuancenreiches Gegenwartspanorama gelungen, mit einer Vielzahl von Blickwinkeln, um der Komplexität unserer Zeit beizukommen und sie ein diagnostisches Gesamtbild zu fassen.
Zadie Smith
London NW
Roman. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, 432 Seiten, 23,70 Euro.