
Kriege sind offenkundig etwas, das Schriftsteller zu Höchstleistungen antreibt, wenn es darum geht, nicht nur die konkreten Schrecken literarisch zu verarbeiten, sondern auch ganz allgemein über die Condition humaine nachzudenken. Der Ausnahmezustand des Krieges, so scheint es, bringt exzeptionelle Romane, Erzählungen und Gedichte hervor. Nicht ohne Grund rücken gerade in diesem Gedenkjahr 2014 wieder verstärkt all die literarischen Texte in den Vordergrund, die noch während des Ersten Weltkriegs, vor allem aber in den Jahren danach die grundstürzende, zutiefst verstörende Erfahrung dieses fürchterlichen Gemetzels in Worte zu fassen versuchten.
Ein anderer Krieg, dem wir, so seltsam es klingt, großartige Literatur zu "verdanken" haben, sind die blutigen Auseinandersetzungen, die den Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren begleiteten. Ob Devad Karahasan, Aleksandar Hemon, Dragan Velikić, Slavenka Drakulić oder Saa Staniić (um nur ein paar Namen zu nennen) - ihre auf die eine oder andere Weise vom Jugoslawienkrieg gezeichneten Bücher gehören zum Aufregendsten und Eindringlichsten, was die Gegenwartsliteratur zu bieten hat.
Auch der Debütroman von Martin Kordić befasst sich mit dem "Wahnsinn des Großen Kampfes", freilich auf eine Art, die ziemlich einzigartig sein dürfte in diesem Genre der postjugoslawischen Kriegsliteratur. Kordić, der 1983 als Sohn einer Deutschen und eines kroatischen Gastarbeiters aus Bosnien in Celle zur Welt kam, hat den Krieg nur indirekt erlebt, nämlich über all die Verwandten und Bekannten, die bei den Angehörigen in Deutschland Zuflucht gefunden hatten. Seit ein paar Jahren arbeitet er als Lektor im Kölner Dumont-Verlag und hat nun mit "Wie ich mir das Glück vorstelle" erstmals die Seiten gewechselt. Wenn Lektoren (oder Journalisten) Romane schreiben, geht das nicht immer gut, aber in diesem Fall schon.
Das hat vor allem damit zu tun, dass Kordić eine tieftraurige Geschichte mitten aus dem Krieg erzählt, aber er erzählt sie aus der Perspektive eines veritablen Außenseiters, sodass all das Elend und das Leid des Krieges nur halb so schlimm und eigentlich ganz normal erscheinen. Viktor, ein ferner Verwandter des blechtrommelnden Oskar Matzerath, kommt völlig schief und steif zur Welt, wochenlang kann man ihn nur in Tücher wickeln, später muss er als Korsett eine "Rückenspinne" tragen, und auch mit seinem Kopf scheint nicht alles in Ordnung zu sein. Kurz: Viktor ist das, was der Pöbel auf der Straße früher einmal "Kretin" genannt hat. Als der Krieg kommt und Nachbarn plötzlich zu Feinden werden, verliert Viktor seine Eltern, lebt als Waise bei der Gebetsgemeinschaft der Söhne Marias und landet schließlich in der Stadt mit den Brücken - womit Mostar gemeint ist -, wo er zusammen mit der einbeinigen Dschib, einem Mädchen, das vergewaltigt wurde, und einem Hund eine eigenartige Notgemeinschaft bildet. Als auch die nach und nach zerfällt, macht sich Viktor auf zu seiner letzten großen Reise.
In ein Heft schreibt Viktor Geschichten von sich und von dem, was er erlebt, von der Vergangenheit mit der Familie und von der Gegenwart des Krieges, und diese Geschichten sind in einem ganz eigenartigen Ton der Verfremdung und der kindlichen Perspektive gehalten. Märchenhaft und voller Sehnsucht erzählen sie davon, wie Viktor sich das Glück vorstellt. Noch die schlimmsten Dinge bekommen so einen Firnis aus Normalität, aus Selbstverständlichkeit; sie verlieren, mit Viktors Blick gesehen, ihren Schrecken und graben sich doch nur umso tiefer ins Bewusstsein des Lesers. Noch irritierender ist, dass alle Geschehnisse absolut präsentisch und damit auf der gleichen Zeitebene angesiedelt sind. "Alles, was geschieht, ist hier. Hier, wo mein Herz ist."
Es gibt kein Davor und kein Danach und auch keine strenge Kausalität. Nur ein erzähltes Jetzt, das bis zum "letzten Tag" reicht, an dem Viktor die Welt hinter sich lässt und sich der Unendlichkeit des Meeres überantwortet.
Martin Kordićs Debüt ist von einer tiefen Traurigkeit durchzogen und kündet doch auf höchst bemerkenswerte Weise von der tröstlichen, erlösenden Kraft der Poesie.
Martin Kordić: Wie ich mir das Glück vorstelle. Roman. Hanser, München 2014, 173 Seiten, 17,40 Euro.