Ludwig Laher. - © Marko Lipus
Ludwig Laher. - © Marko Lipus

Nein, Fritz Bitter hat es nie gegeben. Er ist "das gewissenhaft zusammengetragene Produkt von Dokumenten und Selbstzeugnissen, von Erinnerungen der Lebenden und der Toten, vor allem der Toten, zu denen sich während des langsamen Entstehens dieses Buches noch weitere gesellen, denn aus dem Ärmel schütteln lässt sich bei solch einer Ausgangslage nichts".

Ein "erzähltes" Leben präsentiert uns der gebürtige Linzer Ludwig Laher in seinem Roman, und doch ist es nur eine Winzigkeit entfernt von dem "gelebten" Leben, um das es hier eigentlich geht, nämlich das des Dr. iur. Friedrich Kranebitter (1903- 1957).

Der hochrangige NS-Funktionär war im Dritten Reich Gestapo-Chef in Wiener Neustadt, später Kommandant von Sicherheitspolizei und SD in Charkow und in den letzten Kriegsmonaten in Oberitalien eingesetzt. Er war für mehrere zehntausend Morde verantwortlich, vor allem auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, schaffte es aber auf beinahe unglaubliche Weise, nach dem Krieg einer Bestrafung für sein mörderisches Tun zu entgehen.

Doch Ludwig Laher, einer der bemerkenswertesten Vertreter einer dezidiert "politisch"-aufklärerischen Literatur, geht es um mehr als nur dieses eine Leben: "In Wahrheit ist die Person Bitter nur als Folie von Belang, als schmerzliche Illustration für einen bemerkenswerten, keineswegs aber einzigartigen Sachverhalt."

Und schmerzlich, um nicht zu sagen: bitter ist dieses illustrierende Exempel allemal. Was ist das für ein Mensch, der "die gesamten sieben Jahre, in denen Österreich nicht existiert, beinahe ununterbrochen damit zubringt, Menschen auszuschalten. Sehenden Auges übernimmt er ohne Not selbst exponierteste Aufträge und Posten, die zwar schon mit Verwaltung, aber auch mit Vernichtung zu tun haben. Seine Befehlsgewalt wird er, wo immer er zugange ist, skrupellos einsetzen."

Bitter ist mehr als nur die Verkörperung der Banalität des Bösen, er gehört eher der "Genera- tion des Unbedingten" an, die ihr unbestreitbares organisatorisches Talent bedingungslos in den Dienst der Vernichtung stellte und die dafür sorgte, dass das Massenmorden mit beinahe industrieller Präzision und Intensität vonstatten ging. Besondere Intensität gewinnt Lahers Darstellung dadurch, dass er ständig, manchmal binnen weniger Sätze, die Perspektive wechselt. Er erzählt aus Sicht des Nationalsozialisten ebenso wie mit der Fassungslosigkeit des Historikers, der sich angesichts der Verbrechen und der Art und Weise, wie sie nach dem Krieg ungesühnt blieben, mitunter in eine Art verbitterten Zynismus flüchtet.

Ludwig Lahers Buch ist akribisch recherchiert, eindringlich erzählt und angesichts der Monstrosität des Dargestellten oft nur schwer erträglich. Besonders quälend fallen die Passagen aus, die sich mit der völlig ausbleibenden juristischen Aufarbeitung der Verbrechen in Österreich befassen. Schon bald nach seiner Überstellung aus alliierter Kriegsgefangenschaft in ein Kärntner "Gefangenenentlassungslager" wird Fritz Bitter vom Volksgericht zur geradezu lächerlichen Strafe von einem Jahr verurteilt - wegen illegaler Mitgliedschaft in der NSDAP.

Nach seiner Entlassung 1949 ist er dank alter Seilschaften aber bald wieder in Lohn und Brot, und zwar als Außendienstmitarbeiter bei der oberösterreichischen Landesbrandschadenversicherung. Ausgerechnet er, der in Charkow die vergasten Körper seiner Opfer regelmäßig feinsäuberlich stapeln, mit Benzin übergießen und anzünden ließ. "Ausgesöhnt mit der Welt und ganz friedlich sei er eingeschlafen", heißt es, als er 1957 stirbt. Fassungslos legt man dieses Buch beiseite.

Ludwig Laher: Bitter. Roman. Wallstein, Göttingen 2014, 237 Seiten, 20,50 Euro.