Den wahren Grund nennt der Dichter wohl selber. "Hausbacken bleibt, wer jung zu Hause bleibt", sagt Valentin zu seinem Freund Proteus im frühen Stück "Die beiden Veroneser": "Und hätt nicht Liebe deine jungen Tage / Gefesselt an der Deinen süßen Blicke, / Dann bäte ich jetzt dich, begleite mich, / Und sieh die Wunder dieser weiten Welt, /statt dumpf daheim in Trägheit deine Jugend/ In ungeformter Muße zu vertun. . ." Und in "Der Widerspenstigen Zähmung", der ebenfalls früh entstandenen Komödie, weht "Der Wind, der durch die Welt die Jugend treibt, / Sich Glück wo anders als daheim zu suchen".

Wenige Jahre nach seiner Ankunft hatte sich Shakespeare in der Londoner Theaterwelt als Schauspieler und Stückeschreiber durchgesetzt. Bis 1592 waren bereits mindestens sieben von ihm geschriebene Stücke erfolgreich aufgeführt worden. Als gewichtiges Zeugnis seiner Autorschaft kann ein Pamphlet gelten, das im selben Jahr ein sterbenskranker Konkurrent, der Dramatiker Robert Greene, an jene Kollegen adressierte, die wie er Universitätsabsolventen waren und als "university wits" unter dem Erfolg des Schauspieler-Dichters litten. Mitten unter den Mimen, "jenen Marionetten, die aus unserem Munde sprachen, jenen Possenreißern, die in unsere Farben gekleidet waren", gäbe es neuerdings "eine Krähe von Emporkömmling, geschmückt mit unseren Federn, die mit ihrem in eine Komödiantenhaut gesteckten Tigerherz glaubt, sie könne ebenso gut wie der Beste von euch einen Blankvers hinausschmettern; und als ausgesprochener Johannes Factotum hält sie sich für den einzigen Szenen-Erschütterer ("Shake-scene") im Lande." Die Anspielung auf Mr. Shake-scene ist ebenso unmissverständlich wie die Parodie auf eine Stelle im dritten Teil von Shakespeares "Heinrich VI.", in der es heißt: "O Tigerherz, in Weiberhaut gesteckt!" Kein Zweifel: In die Klage über eine dichtende "Krähe", die allen anderen den Ruhm stiehlt, mischt sich die Anerkennung für den aufstrebenden Rivalen.

Sehen und Staunen

Tatsächlich hatte Shakespeare, der vor Einfällen überquellende Stückeschreiber, in der neuen Wunderwelt der Londoner Freilichttheater eingeschlagen wie ein Komet. Er war Mitglied jener führenden Schauspielertruppe, die sich seit 1594 "Lord Chamberlaine’s Men" nennen und bei Hof gastieren durfte. Als Bühnenwelt-Erfinder war Shakespeare keineswegs allein auf weiter Flur: im Holzoval der damaligen Theater waren Christopher Marlowe, später auch Ben Jonson seine schärfsten Konkurrenten. Unter der 45 Jahre langen protestantischen Regentschaft von Elizabeth I. waren in London die freien Theater wie Pilze aus dem Boden geschossen.

Nicht mehr religiöse Themen und Pflichten banden die Bühnenkunst, sondern das unmittelbare Leben, die Welt und die Wirklichkeit fesselten nun die Stände. Albion blies zum Aufbruch in die weite Welt. Später, unter Elisabeths Nachfolger Jakob I., lieferte dessen Kanzler Francis Bacon in seinem "Novum Organum" jene Philosophie der sinnlichen Erfahrung nach, die zum Sehen und Staunen aufforderte und das Epochengefühl der Zeit ausdrückte.

Solcher Lebenszugewandtheit fühlten sich die elisabethanischen Dramatiker, als Vertreter der unmittelbarsten Darstellung der Wirklichkeit, schon früh verpflichtet. Gefördert von höchster Stelle, mit Schauspielertruppen, die als Protegés des Hochadels auftraten, hatte sich eine fiebrige Unterhaltungskultur entfaltet, in der sich das Theater neben Gauklern und Akrobaten, zwischen Pubs, Bordellen und Tierhatz-Arenen, behaupten musste.

Es war der Kairos der englischen Bühnenkunst, eine Glücksstunde, zu der der junge Shakespeare gegen 1787 gerade rechtzeitig in London eingetroffen war: Nicht mehr nur fahrende Darsteller mit ihren Wanderbühnen durchzogen das Land, sondern Berufsschauspieler in großen stehenden Theatern der englischen Metropole zogen die Zuschauer aus allen Schichten in Massen an. Das "Globe", Shakespeares Bühne von 1599 an, fasste bei seinen stets am Nachmittag gezeigten Vorstellungen bis zu 2000 Besucher. Frauen durften nicht auftreten, sie wurden von Männern dargestellt. Groß war indes der Anteil der weiblichen Zuschauer: Da sie vom Schulbesuch ausgeschlossen und somit meist leseunkundig waren, konnten sie nur im Theater die Literatur kennenlernen. Und sie kamen in Scharen.

Den Puritanern war das alles ein Dorn im Auge. So viel Freizügigkeit auf offener Bühne und im dicht gedrängten Zuschauerraum erschien ihnen als Sündenpfuhl, so viel Offenlegung der wahren menschlichen Natur barg für sie den Keim für Aufruhr und Anarchie. Die lockeren Sitten sollten wieder eingeschnürt, die Theater zugesperrt werden. Immer wieder nahmen sie Anlauf, bis es ihnen 1642 gelang, alle Theater zu verbieten und damit der glorreichsten Epoche der englischen Bühnenkunst den Garaus zu machen.

Vier Jahrzehnte zuvor indes stand der Stern Shakespeares im Zenit. Er hatte, als die Theater vom Sommer 1592 bis zum Frühjahr 1594 wegen einer Pestepidemie geschlossen wurden, mit seinen in Buchform gedruckten Sonetten als Versdichter Furore gemacht, war 1599 Teilhaber des neu gegründeten "Globe"-Theaters und so wohlhabend geworden, dass er sich in Stratford ein geräumiges Haus - "New Place" - hatte erwerben können.

Als Theatermensch kannte Shakespeare alle Kniffe seines Berufs. Indes, so festgefügt das praktische Bretterfundament seiner Bühne erscheint, die dargestellte Welt ist ohne Boden, weil auf leerer Szene ganz aus ungeheuren Wortgebilden aufgetürmt. Wo etwas spielt und wann, welche Verwandlungen in Zeit und Raum stattfinden, das alles wird rhetorisch beschworen und mit ungeheurer Sprachgewalt in die Vorstellungswelt jedes einzelnen Zuschauers versetzt. Das Gleiche gilt für die inneren Vorgänge der Figuren: Was sie bewegt, wie sie ihre Gefühle körperlich, in Gestik und Mimik, zum Ausdruck bringen, wird gleichsam in Sprachbildern verdoppelt, um auch die hintersten Zuschauerreihen über die Vorgänge in Kenntnis zu setzen. Die Schöpfungskraft von Shakespeares Theater verlässt sich gleichsam mit Pauken und Trompeten auf die Macht der Sprache.