Es ist schon seltsam: Denkt man an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren, so stellen sich noch immer diese eigenartigen Bilder vom "Augusterlebnis" ein, die man aus dem Geschichtsunterricht, aus Publikationen oder woher auch immer kennt oder zu kennen glaubt - erregte Menschenmengen, die die Kriegserklärungen mit Freudenrufen begrüßen; Soldaten, die fröhlich winkend die Züge besteigen, welche sie an die Front bringen; pathetische nationale Einheitsbekundungen, die keine Parteien mehr kannten (Deutschland) oder die "Union sacrée" (Frankreich) beschworen oder die Hunnen vor den Toren (England) stehen sahen. Dabei gab es damals, soviel man heute weiß, keine wirklich universelle Kriegsbegeisterung bei den Menschen, der Jubel war eine kulturelle Inszenierung und Legende, die vielleicht auch nachträglich dazu dienen sollte, das erschütternde, alles bisher Erlebte in den Schatten stellende Kriegserlebnis mit so etwas wie Sinn zu füllen.

d’Annunzios Flug über Wien: "Sie, mein Lieber, - Kolportage und Verbreitung von Schundliteratur ist bei uns verboten!" (Karikatur: Fritz Schönpflug, in: "Muskete", 29. 8. 1918, S. 173.) - © Wienbibliothek, Rathaus
d’Annunzios Flug über Wien: "Sie, mein Lieber, - Kolportage und Verbreitung von Schundliteratur ist bei uns verboten!" (Karikatur: Fritz Schönpflug, in: "Muskete", 29. 8. 1918, S. 173.) - © Wienbibliothek, Rathaus

Euphorie der Poeten


Womöglich hat diese Mär vom "Augusterlebnis" aber auch damit zu tun, dass ausgerechnet diejenigen, deren Begeisterung überliefert ist, weil sie sie in Worte zu fassen vermochten, tatsächlich in erstaunlicher Zahl euphorisch zu den Waffen eilten oder die Mobilmachung zumindest mit tönenden Versen begleiteten.

Guillaume Apollinaire etwa begrüßte den Krieg freudig, musste als gebürtiger Pole aber erst die französische Staatsbürgerschaft beantragen, um einrücken zu dürfen. Der Gymnasiast Bertolt Brecht veröffentlichte unter dem Pseudonym "Berthold Eugen" in Lokalblättern patriotische Verse und Reportagen von der Heimatfront wie etwa die "Augsburger Kriegsbriefe". Gabriele D’Annunzio, neben Ernst Jünger der Inbegriff des kämpfenden Dichters (oder umgekehrt des dichtenden Kämpfers), meldete sich im Mai 1915 mit immerhin schon 52 Jahren freiwillig zum Kriegsdienst und machte sich nicht nur als Flieger, sondern auch als Propagandist einen Namen, als er 1918 über Wien Tausende von Flugblättern abwarf, auf denen (auf Italienisch) zu lesen stand: "Die unbekümmerte Kühnheit wirft über Sankt Stephan und den Graben das unwiderstehliche Wort, Wiener! Viva l’Italia."

Rudyard Kipling trommelte in strengen Metren und reinen Reimen fürs britische Vaterland, das es gegen die Deutschen zu verteidigen gelte: "For all we have and are / For all our children’s fate / Stand up and take the war / The Huns are at the gate."

Und selbst ein zarter Schöngeist wie Rainer Maria Rilke, den das weibliche Geschlecht in seinem Leben stets mehr interessierte als Waffen, war sich nicht zu schade, im August 1914 "Fünf Gesänge" zu verfassen, die den daheimbleibenden Frauen Trost spendeten: "Einmal schon, da ihr gebart, empfandet ihr Trennung, Mütter, / empfindet auch wieder das Glück, daß ihr die Gebenden seid. / Gebt wie Unendliche, gebt. Seid diesen treibenden Tagen / eine reiche Natur. Segnet die Söhne hinaus. / Und ihr Mädchen, gedenkt, daß sie euch lieben: in solchen / Herzen seid ihr gefühlt (. . .)." Rilke selbst übrigens hatte 1914 bis 1916 eine stürmische Affäre mit der Malerin Lou Albert-Lasard und war anschließend bereits von der Grundausbildung und ein paar Monaten im Kriegsarchiv so traumatisiert, dass er für einige Zeit verstummte.

Bemerkenswerterweise waren es vor allem die Lyriker, die ihrer Kriegsbegeisterung Ausdruck verliehen, während die Erzähler dem Geschehen deutlich distanzierter gegenüberstanden, was aber nicht weiter verwundert, denn die Prosa ist dem Pathos bekanntlich weniger zugeneigt als das Poem.

Und festzuhalten ist auch: Bei kaum einem dieser Autoren hielt der Enthusiasmus lange an, viele wechselten bald ins Lager der Pazifisten und Kriegsgegner über, vor allem dann, wenn sie selbst an der Front leidvolle Bekanntschaft mit dieser völlig neuartigen Form des Krieges geschlossen hatten. Andere hatten keine Zeit mehr, sich eines Besseren zu besinnen: Allein in den ersten Kriegsmonaten fielen Charles Péguy, Alain-Fournier, Alfred Lichtenstein, Hermann Löns und Ernst Stadler, um nur einige bekanntere Namen zu nennen. Georg Trakl ertrug das Grauen nicht mehr und nahm sich am 3. November 1914 mit einer Überdosis Kokain das Leben.

Ende des Erzählens?


Walter Benjamin hat in seinem berühmten Aufsatz "Der Erzähler" (1936) diese Form der "Erfahrung" und ihre Folgen für die Literatur so gedeutet: "Mit dem Weltkrieg begann ein Vorgang offenkundig zu werden, der seither nicht zum Stillstand gekommen ist. Hatte man nicht bei Kriegs- ende bemerkt, dass die Leute verstummt aus dem Felde kamen? Nicht reicher - ärmer an mitteilbarer Erfahrung. (. . .) Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper."