Heinrich Neisser fühlt sich als "begeisterter Europäer", sieht es aber auch als seine Aufgabe an, "kritische Analysen und Bewertungen zu geben". Der namhafte Politikwissenschafter und ehemalige ÖVP-Mandatar zieht nun in einem sehr informativen, viele Probleme ansprechenden Buch unmittelbar vor der Europawahl 2014 eine Zwischenbilanz der EU. Darin würdigt er viele Fortschritte, nennt aber auch Krisenherde beim Namen: Globalisierung, Arbeit und Arbeitslosigkeit, Strukturwandel der Erziehungs- und Lernorte, technologischen Fortschritt und Ethik und die schleichende Tendenz der Entpolitisierung. Von Wladimir Putin und der Ukraine ist dabei noch gar nicht die Rede.

Die Währungsunion habe man mit Konstruktionsfehlern gestartet, für die EU sei das Vertrauen der Finanzmärkte "geradezu zu einem Fetisch" geworden, sie bedürfe aber auch des Vertrauens ihrer Bürger: "Marktkonformität wird zum obersten Prinzip, Demokratie und Parlamentarismus werden zweitrangig." Neisser plädiert für ein demokratisches, soziales und föderales Europa.

Er nennt Beispiele von Bereichen, wo er von der EU zukunftsorientiertes Handeln und Planen erwartet: Wohlstand und Wettbewerb, Beschäftigungspolitik, Flüchtlingspolitik - für ihn derzeit eine "Schande" - und Klimawandel. Für ihn ist "nicht zu bestreiten, dass Österreich seine Chancen, die es als EU-Mitglied hat, nicht nützt und dadurch auch sein möglicher Aktionsradius innerhalb der europäischen Integration unterschätzt wird".