
"Nach Kriegsende wurden plötzlich die Schleusen geöffnet ... Die meisten von uns lasen zum ersten Male ausländische Autoren der letzten zwanzig, dreißig Jahre. Zum ersten Male aber auch die deutsche und österreichische Lyrik des Expressionismus, des Dadaismus, des Surrealismus." So beschrieb 1957 Hanns Weissenborn, bis 1951 Redakteur der legendären "Neuen Wege" und ab 1954 Herausgeber der Zeitschrift "alpha", die Flut der literarischen Eindrücke für die junge Generation nach 1945.
Durch Austrofaschismus und Nationalsozialismus nicht weniger radikal verschüttet war der "Zeitroman" der 1920er Jahre, der mit Action-Verkleidung gesellschaftspolitische Schräglagen abhandelte. Seine Vertreter wie Vicki Baum, Georg Froeschel, Robert Neumann oder Otto Soyka wurden ins Exil vertrieben, Hugo Bettauer fiel bereits 1925 einem politischen Attentat zum Opfer. Ihre Bücher wurden rasch vergessen, was zur These führte, in Österreich habe es keine Literatur der Neuen Sachlichkeit gegeben.
Nach 1945 aber versuchten einige junge Autoren an diese Tradition anzuknüpfen. Zu ihnen gehörten der junge Johannes Mario Simmel ebenso wie der heuer verstorbene Hermann Schreiber, der fast nur mehr als Sachbuchautor wahrgenommen wird - alle elf aktuell lieferbaren Titel Schreibers fallen in dieses Segment. Das Scheitern des Zeitromans in der Zweiten Republik war ein Phänomen der Rezeption und hatte vor allem politische Gründe: Es war der Kalte Krieg, der die österreichische Literaturgeschichte der Nachkriegsjahre schrieb.
Besiegt, nicht befreit
"Die Menschen gingen in alten Kleidern, sie wohnten in Kellern und Höhlen, sie hatten zu wenig Brot. Und viele von denen, die glaubten, dass ihnen Unrecht geschah, dachten bei sich . . ., es wird gut sein, den Untergang jener noch mitanzusehen, die unsere Richter waren." So beschreibt Simmel 1950 in seinem Roman "Brot" die Stimmung im zerbombten Wien. Das war die verbreitete Haltung der Akteure und Mitläufer des NS-Regimes, die sich nicht als Befreite, sondern als Besiegte erlebten.
Simmel ist vorgeworfen worden, das Buch enthalte problematische Formulierungen des Trosts, ebenso wie sein 1949 erschienener Roman aus dem Luftschutzkeller "Mich wundert, dass ich so fröhlich bin", der bei den Debatten über die angeblich ausgebliebene literarische Behandlung des Luftkriegs nie in den Blick kam. Eines aber ist in Simmels frühen Romanen immer klar: "Wir alle wussten, dass es ein Verbrechen war zu schweigen, aber wir schwiegen", und mit dieser Schuld haben die Menschen nun zu leben. Simmel entwirft in beiden Romanen ungeschönte Live-Berichte aus den realen wie moralischen Trümmerlandschaften Wiens, wo sich die differenten Lebenswege in der NS-Zeit auf oft groteske Weise mischen.
In Simmels 1950 erschienenem Krimi "Der Mörder trinkt keine Milch" überschneiden sich in einer Zeitungsredaktion - ein klassisches Ambiente der Literatur der Neuen Sachlichkeit - die Schicksale eines jüdischen Kulturredakteurs, dem als "U-Boot" ein Überleben in Wien gelungen war, eines Schiebers, der in einer Nachtbar residiert, und eines Journalisten, dem ein Erlebnis aus Kriegstagen zum Verhängnis wird.
"Sturz in die Nacht"
Auch Hermann Schreiber begann mit zeitkritischen Romanen, die bei Erscheinen keiner als Beitrag zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus lesen wollte. Dies ist das "Muster eines neuzeitlichen Abenteuerromanes" und wer "hinter diesen aufregenden Vordergrund zu blicken vermag, der entdeckt dort die Sehnsucht der Jugend nach Sauberkeit und Treue, ihre Bereitschaft, sich für das, woran sie glaubt, mit dem Leben einzusetzen". So ist im Klappentext zu Schreibers 1951 erschienenem Roman "Sturz in die Nacht" zu lesen, und das könnte auch gut ein Buch über die Hitlerjugend bewerben. Doch Schreiber erzählt vor dem actiongeladenen Hintergrund eines Flugzeugabsturzes ganz andere Schicksale, die alle in den Jahren der Résistance und der Verfolgung wurzeln.
Die Formulierung des Verlags, die historische Fakten zu Plattheiten verflacht, entsprach dem zeittypischen Umgang mit dem gerade Erlebten. Er erwuchs aus dem Kompromiss zwischen dem Bedürfnis der großteils schuldhaft verstrickten Überlebenden nach raschem Vergessen und den Anforderungen des Kalten Krieges. Der verlangte eindeutige Frontstellungen, und der Feind war nicht länger der Nationalsozialismus, sondern die Sowjetunion. Deshalb war das Interesse an Romanen über die NS-Vergangenheit in Österreich besonders gering, was die Literarhistoriker zu der nächsten Absenzerklärung veranlasste, in Österreich habe es keine Trümmerliteratur gegeben.
Doch es hat sie gegeben, nicht nur mit Robert Neumanns "Die Kinder von Wien", 1946 im englischen Exil erschienen und zwei Jahre später in deutscher Übersetzung. Viele dieser Bücher wurden in kleinen Verlagen publiziert oder überhaupt nur als Zeitungsabdruck. Auch Reinhard Federmann fand für seine "Chronik der Nacht" keinen Verleger, "weil er in ihm das Schicksal eines heimgekehrten Juden in das Wien der vier Besatzungsmächte" schildert.