
Ich hatte schon ein gutes Stück weit in René Freunds neues Buch hineingelesen, als mir auffiel, dass unsere Väter fast genau gleich alt sind. Den seinen, Jahrgang 1925, ereilte das Kriegsende, invasionsbedingt verfrüht, im Mai 1944 in Paris. In dem allgemeinen Tohuwabohu, das kurz vor dem Herannahen der alliierten Truppen in der französischen Hauptstadt herrschte, machte er sich mit einem älteren Kameraden aus dem Staub; mit sehr viel Glück schafften die beiden es unversehrt in die amerikanische Kriegsgefangenschaft.
Meinen ein Jahr jüngeren Vater hatte man Mitte 1944 noch rasch zur Wehrmacht eingezogen. Beim Jahrgang 1926 verzichtete man bereits auf die sogenannte Kriegsmatura, der Vater Freund noch teilhaftig geworden war. Nach einer Hudriwudri-Ausbildung schickte man meinen Vater nach Slowenien zum Kampf gegen die Tito-Partisanen. Im Frühjahr 1945, irgendwo in Kärnten, wurde ihm und seiner Einheit von einem vernünftigen Vorgesetzten nahegelegt, das Gewehr in den nächsten Busch zu schmeißen und sich auf den Weg nach Hause zu machen. Dieser erfolgte alsbald zu Fuß über die tiefverschneiten Tauern und endete vorderhand in einem provisorischen Auffanglager der Amerikaner im Tiroler Unterland. Einen Moment der Unaufmerksamkeit der Wachen nützte er, um sich gleich auch noch der Rolle des Kriegsgefangenen zu entledigen.
Mein Vater hat diese Geschichte immer wieder erzählt, in der ihm eigenen farbigen Art. Das Wort "Deserteur" ist ihm dabei nie in den Sinn oder über die Lippen gekommen. Er hatte ganz einfach das in diesem Augenblick Richtige getan - genauso wie Gerhard Freund ein Jahr vor ihm.
Nach Lage des Kriegsrechts waren sie freilich beide Deserteure, mit allen Konsequenzen, hätte man sie in letzter Minute doch noch erwischt. Aber es ist nicht nur dieses eine Problem-Wort "Deserteur", mit seinen Bedeutungsschattierungen zwischen "Verräter" und "Held", was den Erzähler René Freund umtreibt. Es ist die schiere Unfassbarkeit dessen, was die Generation unserer Väter erlebt hat (egal, in welcher Rolle sie in dieses gigantisch-grauenhafte Weltkriegstheater hineingeraten waren), unfassbar für uns, die in gottlob friedlichen, historisch ziemlich uninteressanten Zeiten lebenden Nachgeborenen.
Schlachtfeld-Tourismus
Diesen Themenkreis bearbeitet René Freund, schreibend, das Tagebuch des Vaters zitierend und eine Menge von Literatur zum Thema lesend, dann auch reisend: zu den Schlachtfeldern des nördlichen Frankreich, wo sich der Tourist von heute aussuchen kann, ob er sich lieber von den Feldern der Ehre aus dem Ersten oder jenen des Zweiten Weltkriegs deprimieren lässt. Am Strand der Normandie wurde wenigstens der Sieg der Demokratie unwiderruflich, aber auch hier kann das moralisch suchende, zweifelnde Erzähler-Ich sich mit sich selber auf keine Formel einigen. Sind wir doch alle, wir Nachgeborenen, als lupenreine Pazifisten ausgebildet ins Erwachsenenalter gekommen, mit der im Nachhinein vollkommen skurrilen, weil moralisch überhaupt nicht eindeutigen Anti-Vietnam-Bewegung um 1970 als Prägung - und mit der moralisch mehr als fragwürdigen westlichen Linken als Begleitmusik bis 1989.
Sehr eindrücklich beschreibt René Freund dieses moralische Schwanken und Zweifeln der Nachgeborenen, das sich mit dem Erwachsenwerden (lange nachdem man biologisch "erwachsen" wurde) einstellt und einen mehr und mehr daran hindert, in diesen historischen Fragen, die doch immer ins Gegenwärtige hereinspielen, eindeutig Stellung zu beziehen. Mit 18 ist man mit sich im Reinen: Du sollst nicht töten, das ist ja auch eine ziemlich eindeutige Ansage. Unsere Väter wurden mit 18 allerdings nicht gefragt, ob sie nun der Meinung wären, man solle oder man solle nicht, beziehungsweise unter welchen Umständen vielleicht doch.
Wie jede Partei in jedem Krieg hatte ihr "Vaterland" einen "gerechten Krieg" angesagt. Der sozialistische Hintergrund gab dem Vater Freund (des späteren ersten österreichischen Fernsehdirektors, der bereits im Alter von 53 Jahren starb, als Sohn René 12 war) eher die Chance, das Unrechte dieses Krieges zu erkennen, mein aus deutschnationaler Familie stammender (noch lebender) Vater brauchte erst die konkrete Erfahrung von Krieg und Kriegsende dazu. Der Nazi-Staat hätte sie beide aufgrund ihrer Desertion gleichermaßen umgebracht; uns späteren Neunmalklugen wären sie rein aufgrund des Geburtsdatums moralisch suspekt - wären sie nicht unsere Väter. Also nicht nur Bekannte, sondern die für unser Auf-der-Welt-Sein unmittelbar Verantwortlichen.
Die Empathie, die einem in solchem Fall gewissermaßen automatisch zuwächst, ist ein wunderbarer Ansatz, um vom Allgemeinen ins Spezifische zu kommen. Um die Balance zwischen dem Moralischen (war es denn gut oder böse) und dem Erzählerischen (wie war es? wie kann ich es mir vorstellen?) ringt René Freund über die ganze Länge dieses Buches, und daraus gewinnt er dessen Lebendigkeit und literarische Qualität.
Und nun zu den Müttern. Sind die Väter in der traditionellen Familie für das Heldische zuständig, so repräsentiert die Mutter die Geborgenheit im Häuslichen, als Fortsetzung der ursprünglichen Geborgenheit in ihrer Leiblichkeit. Beim Vater, kraft seines Heldentums, wäre der Tod zumindest theoretisch vorstellbar, bei der Mutter nicht. Stirbt sie tatsächlich, so stirbt die Familie mit ihr.