Der Geburtsfehler der Moderne im Nahen Osten war der Irrglaube, dass der Staat, wie ihn der Westen hervorgebracht hatte, die Moderne verkörpere. Die Araber hatten seit der Expedition Napoleons 1798 nach Ägypten erkennen müssen, wie weit sie gegenüber dem Abendland zurückgefallen sind. Dagegen erhob sich im Laufe der Zeit zunehmender Widerstand politisierter Muslime.

Atatürk in der Türkei oder Gamal Abdel Nasser in Ägypten war eines gemeinsam: Sie wollten über den Staat die Moderne zu sich holen. Ihre autoritären Regime sollten die Abkürzung sein, um zur Moderne zu gelangen. Doch ihr Weg führte in eine unfreie Moderne mit großer Ungleichheit und Mangelwirtschaft für die Mehrheit der Menschen.

"Kalifat" zeigt Grundzüge eines totalitären Gottesstaates

Die Massenerhebungen in den arabischen Ländern, im Westen fälschlicherweise "Arabischer Frühling" genannt, waren ein Bruch: Der Wunsch nach Freiheit und Gerechtigkeit wurde begleitet von Gewalt und Terror. Syrien und der Irak sind das große Schlachtfeld sowie der "Spiegel der großen Herausforderungen", denen die arabische Welt sich gegenübersieht: eine Konfessionalisierung, bei der Religion und Politik tief ineinandergreifen; eine Politik, die viele von der Teilhabe ausschließt und so den Boden für Radikalisierung bereitet; der Missbrauch von Macht und das Entstehen neuer, nicht-staatlicher Gruppierungen wie der sunnitischen Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) als nunmehr gefährlichster Akteur mit seinen Allmachtsansprüchen für die Region und die Welt.

Der "FAZ"-Fachjournalist Rainer Hermann bietet mit seinem brandneuen Buch tiefe Einblicke in die Wirren eines in Krieg und Chaos versinkenden Nahen und Mittleren Ostens. Im Fokus steht dabei das Erstarken des IS, der unter anderen Namen bereits seit 1999 existiert. Die US-Invasion im Irak 2003 und der Bürgerkrieg in Syrien seit 2011 haben jeweils ein Umfeld geschaffen, in dem er sich ausbreiten konnte. Erst seit der brutalen Eroberung weiter Teile Syriens und des Iraks im Sommer 2014 ist die Weltöffentlichkeit auf das Wüten der sunnitischen IS-Miliz gegen alle "Ungläubigen" (auch und gerade die Schiiten mit ihrer Schutzmacht Iran) aufmerksam geworden.

Die Ausrufung eines "Kalifats" in Anlehnung an die Anfänge des Islam nach Mohammed hat die Grundzüge eines totalitären Gottesstaates erkennen lassen. Der IS sei zwar als Manifestation des islamistischen Terrors nicht neu, betont Hermann, doch was die Rekrutierungs- und Propagandastrategien sowie die Finanzierung und militärische Ausrüstung betrifft, stellt er die ehemalige Mutterorganisation Al-Kaida deutlich in den Schatten. Drei Vorläufer führen auf den IS zu. Der Bogen reicht von Juhaiman al-Utaibi, dem Besetzer der Großen Moschee von Mekka im Jahr 1979, über Osama bin Laden, der 1988 in Afghanistan Al-Kaida gründete, bis zu Abu Musab al-Zarkawi, der 1999 die Grundlagen für den heutigen IS legte.

Dieser Entwicklungsbogen verläuft nicht flach, sondern beschreibt eine "Eskalation des Terrors", so Hermann. Seine Kernthese lautet: Das Staatsversagen der Vergangenheit hat heute vielerorts in der arabischen Welt zu Staatszerfall geführt. In dieses Vakuum stoßen solche Extremistengruppen wie der IS. Wir sind Zeugen eines primär innerislamischen Religionskrieges - eines neuen "30-jährigen Krieges der Araber", der auch Europa nicht unbeschadet lassen wird.

Angesichts der Zahl der in Syrien unter anderem aus vielen westlichen Ländern stammenden jungen Muslime, die dem Schlachtruf des selbst ernannten Kalifen, dem Iraker Abu Bakr al-Baghdadi, Folge leisten und an der Seite des IS für ein verheißenes "Kalifat" kämpfen, ist die Bedrohung von in den Westen zurückkehrender Dschihadisten als potenzielle Terrorzellen nicht erst durch die jüngsten Anschläge von Brüssel und Paris mehr als real geworden. Der Westen muss zwar für alle Herausforderungen gewappnet sein, kann aber in dieser Auseinandersetzung nur flankierend zur Seite stehen.

Sachbuch

Endstation Islamischer Staat? Rainer Hermann

dtv, 144 Seiten, 13,30 Euro