
Der Gast aus Österreich darf auch ungeladen in den schattigen Innenhof des armenischen Hauses, wo ermüdete Katzen vor der Sonne flüchten. Ein Schritt von der Terrasse zu den Granatäpfeln und den Weinreben; während das Mahl vorbereitet wird, führt ein Rundgang zu den Fässern mit gärendem Obst. Am Tisch wird der Gast den selbstgemachten Rotwein und Schnaps kosten und die Kerne des Granatapfels zur vergorenen Milch nehmen. Der Gast aus Österreich ist hoch willkommen, er ist nicht fremd, wenn er aus dem Lande Werfels kommt, der dem verletzten Volk eine Stimme, seine Würde gegeben hat.
Der Gast aus Österreich darf sich des Ruhmes erfreuen, den Franz Werfel für das Volk erworben hat. Mit seinem Roman "Die 40 Tage des Musa Dagh" hat Werfel jenes tiefe und bis heute international ungesühnte Leid des armenischen Volkes in die Literatur eingeschrieben, lange bevor es ein Thema politischer und historischer Beschäftigung war. Werfels Roman heißt bei den Armeniern nur der "Armenier-Roman". 1933 veröffentlicht, hat Werfel in Lesungen die Geschichte bekannt gemacht.
Werfel hat sich seit 1929 mit dem Völkermord an den Arme-niern beschäftigt. Der damalige armenisch-apostolische Patriarch von Jerusalem, berückt vom Beistand des berühmten Dichters, hat ihm dafür schon 1929 ein armenisches Kreuz geschenkt.

Dieser Patriarch Tourian, 1860 im Osmanischen Reich geboren und bis 1929 Oberhaupt des armenisch-apostolischen Patriarchats von Jerusalem, war Bruder eines berühmten westarmenischen Poeten, wusste die Dichtkunst zu schätzen, dichtete selbst und engagierte sich in Bildungsreformen und Schulgründungen - insbesondere nach 1915, als er Lehrer anwarb unter den Überlebenden des Völkermords und Schulen begründete. Das Kreuz, das der Patriarch dem Dichter zum Geschenk machte, enthält der Legende nach eine Reliquie des Kreuzes Christi, einen religiösen Bogen schlagend zu all den Verfolgten unter dem Kreuz.
Der Weg des Kreuzes

Werfel hat den Schatz über die NS-Verfolgung hinweg gerettet, bis er in den Besitz des erst im Vorjahr verstorbenen Erich Rietenauer gelangte; der übergab das Kreuz bereits in der Karwoche des Jahres 2010 dem Wiener Erzbischof, der es nun im Rahmen einer ökumenischen Vesper im Stephansdom am 24. April an einen würdigen Platz stellt.
Die Geschichte der Dankbarkeit hat Erich Rietenauer, der als Alma Mahlers kleiner Fotograf in die Kulturgeschichte einging, gemeinsam mit der Kreuzübergabe in einem Brief an Christoph Schönborn aufgeschrieben: Angefangen von Damaskus, wo Werfel im Jahr 1929 auf seiner Reise mit Alma angesichts der armenischen Kinder bei der Sklavenarbeit vom Völkermord eindringlich bewegt ist (ein Damaskus-Erlebnis, wie es dem Apostel Paulus zugeschrieben wird), bis zum wundersamen Erstaunen des armenischen Patriarchen, der schon fast die Hoffnung verloren hatte, dass die Welt auf das Leid seines Volkes aufmerksam würde. Und wie der gerade zum Christentum übergetretene Werfel sich anfänglich gewehrt hätte, die Kreuzreliquie anzunehmen, das Wertvoll-ste, das der Patriarch zu verschenken hatte. Rietenauer glaubte fest daran, dass sein Gott und das göttliche Geschenk den Welterfolg des Musa Dagh verursacht hatte.
Werfel, der Sohn gläubiger jüdischer Eltern, von seiner tschechischen Kinderfrau in Prag katholisch erzogen, für die Ehe mit Alma zum Katholizismus übergetreten, hat seine poetisch-politische Stimme erhoben. Er ist zum Anwalt geworden und legt Zeugnis ab. Pathetisch gesprochen: Der Dichter Werfel überschreitet den Raum der Poesie und betritt jenen des Völkerrechts, und es mag sein, dass er den Mut zum Überschreiten in der Sehnsucht nach dem Komponieren fand.
Komponieren ist das Erlernen einer Sprache, und Werfel muss traurig einsehen, dass er sie zu spät erlernt hat. Wer verwehrt es einem aber, Werfel einen Musikschaffenden zu nennen? Er "der vom Heißhunger nach von mir geschriebenen Noten" schreibt und berichtet: "habe auch versucht (hie und da) zu komponieren, doch Alma sagt, gänzlich natur- und talentlos". Und doch: "Übrigens alle musikalische Übung, die ich habe, verdanke ich ihr".
Werfel sucht Almas Nähe aus Verehrung für Gustav Mahler, Werfel lässt sich von Alma das Partitur-Lesen beibringen, Werfel singt, und seine Singstimme muss so imposant gewesen sein, dass er "Caruso" oder "der Tenor" genannt wurde. Das Singen ist Werfel ein Mittel der Kommunikation, ein Medium des Gemeinsam-Seins. Werfel singt statt zu reden: Bei einem Treffen erinnern Franz Werfel und James Joyce "über den Tisch hinweg einander an geliebte Arien, Chöre und Duette, diskret summend zunächst; dann aber zum Erstaunen der übrigen Gäste im Restaurant, mit festlich erhobenen Stimmen. Wunderlicher Gedanken- und vielmehr Gefühlsaustausch zweier verwandter Seelen!"
Vorbild Verdi
Werfel, der schon als Gymnasiast von Verdi fasziniert ist, die Texte auswendig lernt, und die Rollen, die er von Enrico Caruso gesungen hört, nachschmettert, ist in den 1920er Jahren ein wesentlicher Faktor für die Verdi-Renaissance im deutschsprachigen Raum. Seine Arbeit der Neu-Übertragung, von ihm selbst "als hingebungsvoller Dienst" an Verdi bezeichnet, ist nicht Modernisierung oder Aktualisierung, sondern entspringt dem Wunsch, die Welt durch die unerschöpfliche Musik des italienischen Meisters zu bereichern und die moderne Oper dadurch zu erneuern. Werfels Hinwendung zu Verdi reicht weit über musikalische Wertschätzung hinaus, bis zur Überzeugung, dass diese Opernkunst nicht ohne christlichen Humanismus denkbar wäre.