Die junge Dame, die am 12. Juli 1788 im Weimarer Park wartet, um dem Minister Goethe eine Bittschrift für ihren Bruder zu überreichen, ist dreiundzwanzig Jahre alt. Sie kommt aus einfachsten Verhältnissen, die Mutter ist schon verstorben, ebenso Vater Vulpius, der lange Zeit ohne Entgelt am Fürstenhof zu Weimar arbeiten musste. Der Bruder Christian August, ein damals noch erfolgloser Schriftsteller, hat zwar ein von Gönnern finanziertes Jus-Studium hinter sich, findet aber keine Anstellung. Für die Schwester Christiane, die die Restfamilie mit ihrer Arbeit als Putzmacherin gerade über Wasser halten kann, ist es der letzte Ausweg, mit Hilfe einer Bittschrift an Johann Wolfgang von Goethe diesen fatalen Zustand zu ändern. (Später wird Christian August Vulpius mit seinem populären Räuberroman "Rinaldo Rinaldini" berühmt werden.)

Flucht nach Italien

Christiane Goethe, gezeichnet von ihrem Mann. Abb.: Centpacrr/Wiki
Christiane Goethe, gezeichnet von ihrem Mann. Abb.: Centpacrr/Wiki

Goethe hatte als Günstling des Fürsten Carl August in Weimar blitzartig Karriere gemacht. Er kümmerte sich als Wegebaudirektor um die verlotterte Verkehrsinfrastruktur des Fürstentums. Er war auch für den Bergbau im benachbarten Ilmenau zuständig, war im Kriegsministerium tätig und saß im Geheimen Consilium, dem wichtigsten beratenden Gremium des Fürsten. Zum Dichten blieb wenig Zeit. Er unterhielt eine innige Beziehung zu Charlotte von Stein, die er fast täglich sah und der er im Laufe von zehn Jahren über 1700 Briefe schrieb.

Doch im Sommer 1786 war ihm alles zu viel geworden, und Anfang September hatte er sich heimlich nach Italien davongemacht. Nicht einmal Frau von Stein wurde von seiner Abreise informiert. In Italien fand er Zeit zu leben und zu schreiben - umso schrecklicher war die Rückkehr nach Weimar am 18. Juni 1788, wo er, der inzwischen völlig Veränderte, so gut wie keine Veränderung vorfand.

In dieser Lage begegnet ihm Christiane. Zwar hat er sich von Carl August weitere Dienstfreistellungen ausbedungen, helfen kann er dem jungen Christian August Vulpius aber allemal: Er unterstützt ihn finanziell, macht ihm aber keine Hoffnungen auf Anstellung in Weimar. Und an der herben Schönheit der Schwester findet Goethe Gefallen.

Christiane weiß zwar genau, was sie will, ist aber völlig mittellos. Diese sehr einfach Frau trifft auf den sechzehn Jahre älteren Goethe, der hochgebildet, weit gereist und mächtig ist, aber noch unter Ankunftsschock nach der Rückkehr aus Italien steht. Und diese beiden ungleichen Menschen finden nun zueinander.

Goethe lässt sich auf ein erotisches Abenteuer ein und trifft Christiane beinahe täglich im Geheimen auf ein paar Stunden. Zum Glück wird gerade sein Gartenhaus frei, das zuvor vermietet war. Tagsüber geht Christiane ihrer Arbeit in einer Manufaktur für junge Frauen nach, abends trifft man sich. Der Weimarer Gesellschaft erklärt Goethe seine Zurückgezogenheit von gesellschaftlichen Aktivitäten mit Klagen "über den nordischen Himmel, der unglaublich auf mich lastet" sowie mit dem Wetter, unter dem er angeblich so leidet.

In Briefen an auswärtige Freunde klingt er hingegen viel fröhlicher. Goethe kommt "nach und nach zu sich selbst", schreibt den "Torquato Tasso" und vollendet die "Römischen Elegien", die ursprünglich sehr passend "Erotische Elegien" hießen, bei denen nicht nur römische Liebschaften, sondern auch Christiane inspirierend wirken. Ihre intensiven Liebesabenteuer sind durch Rechnungen belegt: mehrfach sind Bettreparaturen notwendig, wie man heute noch im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar nachlesen kann.

Auch Frau von Stein trifft Goethe wieder, doch das ehemals innige Verhältnis ist distanziert und abgekühlt. Im März 1789 wird das geheime Verhältnis Goethes zu Christiane publik. Der Skandal ist perfekt. Zunächst ist es Frau von Stein, selbst verheiratet, die sich empört: Goethe hat eine andere, noch dazu eine von niederem Stande. Auch die Weimarer Gesellschaft reagiert entsetzt. Mätressen haben viele, auch der Erzherzog, aber nicht von niederer Herkunft. Goethe lebt nun, da alles bekannt ist, offiziell mit Christiane zusammen, muss aber wegen der allgemeinen Ablehnung aus seinem Stadthaus am Frauenplan ausziehen und in einem Jägerhaus am Stadtrand wohnen.

Im Haushalt leben auch Christianes Halbschwester (14 Jahre) und die fünfundzwanzigjährige Tante. Inmitten des großen Skandals wird am 25. Dezember 1789 Goethes und Christianes Sohn August Walter geboren. Sein Gönner Carl August hält weiterhin zu Goethe und soll Augusts Taufpate gewesen sein.

Seiner in Frankfurt lebenden Mutter verheimlicht Goethe die Geburt und seine Lebensumstände. In Weimar lässt er alle Beziehungen spielen und schafft es, dass sein Sohn nicht als unehelich ins Taufregister eingetragen wird, obwohl er nicht an Heirat denkt. Bei der Taufe selbst ist Goethe nicht anwesend, zu sehr hasst er alle kirchlichen Formalitäten - auch die Ehe. Weitere Kinder von Christiane und Goethe sterben kurz nach der Geburt, vermutlich wegen Blutgruppenunverträglichkeit der Eltern.

Die folgenden Jahre sind für Christiane nicht leicht. Zwar lebt sie an Goethes Seite, von diesem durchaus geliebt, aber eben unverheiratet, das heißt rechtlos und gemieden von der Weimarer Gesellschaft. Zudem ist Goethe oft auf Reisen: Noch einmal geht es nach Italien, diesmal mit der Fürstinmutter Anna Amalia, mit dem Herzog nach Schlesien und Frankreich, immer wieder nach Jena und Ilmenau. Christiane bleibt zurück, macht ihm zwar gelegentlich Vorhaltungen, organisiert aber umsichtig den Haushalt, der sich ab 1791 wieder im Zentrum der Stadt am Frauenplan befindet. Goethe übernimmt wieder diverse Jobs im Fürstentum: Er wird Wasserbau- und Theaterdirektor, kümmert sich um Steuersachen und den Schlossneubau. Geheimer Rat ist er nach wie vor. Verständlich, dass er eher selten zu Hause weilt.