Der "homo hecticus" ist immer in Eile. - © Harry Choi/TongRo Images/corbis
Der "homo hecticus" ist immer in Eile. - © Harry Choi/TongRo Images/corbis

Manche Zeitgenossen kann man mit einem Lob der Unruhe gegenwärtig nur in die Flucht schlagen. Zu viel Neuerung, Umwälzung stürmt auf sie ein. Nicht wenige wünschen sich ein Anhalten, ein Innehalten. Gnadenlos schüttelt der Generator der gesellschaftlichen Unbeständigkeit sie durch.

Rastlosigkeit ist die Signatur der Epoche. "Es ist erstaunlich zu sehen, wie bereitwillig wir uns mitreißen lassen, die Bedingungen der Unruhe anzunehmen", schreibt der Kulturwissenschafter Ralf Konersmann in seiner ebenso tiefschürfenden wie anregend geschriebenen ideengeschichtlichen Untersuchung über "Die Unruhe der Welt". Und er fragt: "Was ist das für eine Gedankenordnung, in der Stillstand als Rückschritt gilt und Abwarten als Lähmung? Welcher Logik entstammt die Überzeugung, dass wir uns nie zufriedengeben, nie zurücklehnen und die Lage um keinen Preis einfach hinnehmen dürfen?"

Wir sind gehetzt. Nachrichten jagen sich im Sekundentakt. "Das Lebensgefühl der happy workaholics bestimmt den Trend." Am frappierendsten tritt das beim Hochfrequenzhandel an den Finanzbörsen, dem "flash crash", zutage. Sogar das Freizeitvergnügen soll uns "atemlos" machen, wie es eine hoch im Geschäft stehende Hitsängerin gerade herbeiträllert.

"Ich habe keine Zeit, es eilig zu haben", steht hingegen auf einer Wiener Hauswand, von einem ironischen Zeitgenossen als aufmüpfiges Sgraffito hingesprayt. Das Paradox spricht Bände: Während einst die schöpferische Muße ein anzustrebendes Lebensbild der Antike darstellte, hat die Neuzeit diesen Zustand zunehmend unter den Verdacht der Untätigkeit und phlegmatischen Weltabgewandtheit, ja der Pflichtvergessenheit und gesellschaftlichen Verantwortungslosigkeit gestellt. "Sorgenlosigkeit und beständige innere Ruhe" bilden den Wesenskern von Senecas Lehre ‚Vom glücklichen Leben‘. Vor zweitausend Jahren schrieb der römische Stoiker an seinen Freund Paulinus: "Der Muße wirklich ergeben sind überhaupt nur die, die ihre Zeit der Weisheit widmen; denn sie allein führen ein wirkliches Leben; sind sie doch nicht nur gewissenhafte Hüter ihrer eigenen Lebenszeit, sondern fügen auch den gesamten Zeitverlauf ihrem Leben hinzu, alles Schaffen vorvergangener Jahre ist ein Erwerb auch für sie."

Indes, gerade das Denken, das den Dingen auf den Grund gehen will, treibt die Unruhe um. Muße und Kontemplation sind ihm bestenfalls Startbedingung, nicht Ziel. Die "Unruhe der Welt" hat einen langen Herkunftsweg. Im Buch Genesis etwa beginnt sie mit der Vertreibung von Adam und Eva aus der Mühelosigkeit des Paradieses und setzt sich dramatisch fort mit Gottes Fluch über den in Sünde gefallenen Brudermörder: "Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein." Fortan trägt der flüchtige Mensch das Kainsmal der Unruhe.