
Etwas nüchtern und verknappt könnte man sagen: Norbert Gstrein ist ein inzwischen anerkannter und routinierter Fachmann für das Spiel mit Fakten und Fiktion, mit Identität und Wahrheit, mit politischer Geschichte gespiegelt in individuellen Geschichten. Die Verlockung, seine Romane als Schlüsselromane zu lesen, ist meistens groß und wurde vom Autor etwa im Falle seiner Bücher "Die ganze Wahrheit" (über die ehemalige Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz) oder "Das Handwerk des Tötens" (über den Jugoslawienkrieg) durchaus genährt.
Dieses Spiel geht nicht immer gut (siehe Suhrkamp), aber wenn die Geschichten nicht mit Geschichte (oder verschlüsselten Abrechnungen) überfrachtet werden, gelingen dem 1961 geborenen Tiroler in ihrer erzählerischen Souveränität und in ihrem skrupulösen Umgang mit der Wahrheit beeindruckende Werke, wie etwa zuletzt "Eine Ahnung vom Anfang".
Wie bei Gstrein inzwischen guter Brauch, stehen die Warn- oder wahlweise auch Verwirrungszeichen auch diesmal gleich am Beginn. "Manches von dem Folgenden ist wirklich geschehen, aber ich bin nicht ich, er ist nicht er, sie ist nicht sie, die alte Geschichte", werden wir vorab informiert.
Heikles Terrain
Kann sein, dass dieser erzählerische Vorbehalt hier wichtiger denn je ist, denn diesmal begibt sich Gstrein auf ausgesprochen heikles Terrain, nämlich den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern im Nahen Osten - und zwischen Opfer- und Täterkindern in der "freien Welt". John, knapp über 60, ist in San Francisco ermordet worden, erstochen in einer finsteren Seitenstraße, und sein Tod ist für seinen österreichischen Freund, den Schriftsteller Hugo (dessen deutscher Verlag von Frankfurt nach Berlin umgezogen ist, siehe Suhrkamp!), der Auslöser, um als "Beobachter, Zeuge und Bewunderer" danach zu fragen, wer dieser John eigentlich war. "Er war kein schlechter Mensch", sagt irgendwann jemand über ihn. Aber war er auch ein "guter Mensch"?
Reales Vorbild für John ist der amerikanische Autor Alan Kaufman, dem dieses Buch gewidmet ist und der seine Autobiographie "Judenlümmel" (erschienen in der Edition BAES in Zirl/Tirol) 2014 gemeinsam mit seinem Freund Gstrein in Salzburg und Wien vorgestellt hat. Einige Elemente seiner Biographie bestimmen auch Johns Lebenslauf, aber Kaufman ist nicht nur hierzulande zu unbekannt, um beim Leser nachhaltige Entschlüsselungsphantasien zu wecken.
Fest steht jedenfalls: John war eine ausgesprochen widersprüchliche Persönlichkeit. Sohn einer Holocaustüberlebenden, "Muskeljude" (wie er sich selbst nennt), Soldat im Libanonkrieg, inzwischen abstinenter Alkoholiker, Frauenheld, Verfasser schlüpfriger Verse und eines Erinnerungsbuchs, Maler von Bildern, die er als "Zionistische Kunst" betrachtet sehen will. Mit dieser Selbstzuschreibung stellt er sein künstlerisches Schaffen ganz bewusst und provokativ mitten hinein in den Nahostkonflikt, was nicht jedem gefällt.
Hat sein Tod also möglicherweise antisemitische Hintergründe? "Self-Portrait as a Hated Jew" heißt bezeichnenderweise eines dieser Gemälde, das Hugo ihm abkauft, "obwohl es mir weniger gefiel, als dass es mir einen Schrecken versetzte". Es zeigt in bester Francis-Bacon-Manier "ein riesiges Haupt in grünlich weißen Grautönen mit nur einem einzigen Auge, ein unauflösbares Durcheinander aus Verwachsung und Vermummung".
Für andere dagegen war John eher der "hating Jew", der als Soldat die Araber bekämpfte - ein Foto von ihm mit dem "Gewehr stramm vor der Brust" zierte einst sogar die Titelseite der "Jerusalem Post" - und auch sonst aus seinem stramm israelischen Patriotismus keinen Hehl machte. Etwa für den Palästinenser Marwan, den Hugo auf einem Literaturfestival in Gmunden gemeinsam mit John aufs Podium und auf den Traunstein bringt (den Hof von Thomas Bernhard in Ohlsdorf aber möchte John auf keinen Fall besichtigen).
"Der Gesichtslose"
Ein gemeinsames Buch über den Nahost-Konflikt sollen sie schreiben, aus dem aber zur Erleichterung von Hugo nichts wird: "Ich halte nicht viel von diesen Aktionen à la Barenboim und wie sie sonst noch heißen, wo für den Frieden zusammen fröhlich musiziert, gesungen und ich weiß nicht was noch alles wird, hier ein oder zwei Dutzend palästinensische Kinder, möglichst schön anzusehen, dort ebenso viele Israelis, nicht weniger schön." Stattdessen verfasst Marwan einen Text über Johns gewaltsamen Tod, der irritierend viel Detailwissen offenbart und den Titel "Der Gesichtslose" trägt.
Wer also war dieser John, der als amerikanischer Haudrauf nur Jack und als israeltreuer Jude Jonathan genannt wurde? Hugo fährt nach Amerika und nach Israel sowie in die Palästinensergebiete, er spricht mit Freunden und insbesondere Freundinnen von John, erinnert sich an gemeinsame Zeiten in Kalifornien und Österreich (u.a. an einen Besuch in Mauthausen) und wird nebenher noch zum Gegenstand innerösterreichischer Literaturbetriebsdebatten (Achtung, Schlüsselroman!).