Zu Miguel Cervantes’ 400. Todesstag konnte man lesen, mit dem "Don Quijote" hätte der Spanier den Grundstein für die Literatur der Postmoderne gelegt. Indem er eine untergehende Gattung, den Ritterroman, parodierte, habe er zugleich etwas visionär Neues geschaffen, dessen Tragweite lange Zeit nicht erkannt wurde. Zu sagen, David Mitchells jüngster Roman, "Die Knochenuhren", würde in vierhundert Jahren einen ähnlich solitären Platz in der Litertaturgeschichte zugewiesen bekommen, wäre übertrieben. Dass Mitchell mit diesem Werk aber völlig neue Maßstäbe des Erzählens setzt, so viel darf schon heute behauptet werden. Selbst wenn manches, was in den "Knochenuhren" geboten wird, schon in Mitchells früheren Romanen angelegt war.

"Überroman"

Einen "Überroman" wollte Mitchell laut eigenem Bekunden diesmal schreiben. Was auch immer das sein mag - es ist ihm gelungen. Über 800 Seiten entgrenzter Epik bietet der Text. Entgrenzt jedenfalls, wenn es um die eindeutige Zuordnung zu einem literarischen Genre geht. Fantasy? Abenteuerroman? Campusgeschichte? In den "Knochenuhren" gibt es von all dem etwas - und noch viel mehr dazu. In Wirklichkeit lässt sich nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob das Buch nun ein einzelner Roman ist oder doch deren sechs. Und dass es in einem der sechs, sagen wir: Teilromane, aus dem es besteht, auch noch einen Roman im Roman gibt, der wiederum die Handlung eines anderen Teilromans wiedergibt, macht die Sache mit der Zuordnung auch nicht einfacher.

Wenn sich der eine oder andere Rezensent bei der Lektüre der "Knochenuhren" daher an die russischen Matrojschkas, die Puppen in der Puppe, erinnert fühlt, so hat das also durchaus seine Richtigkeit. Lesen lässt sich das Ganze dennoch famos. Nacherzählen hingegen kaum. Denn, und das scheint ohnehin ein wichtiges Charakteristikum des Mitchell’schen Erzählens zu sein: Wohl fügt sich noch jede kleine Geste, jeder Seitenstrang der Handlung, jeder scheinbar abwegige Exkurs am Ende absolut stimmig in das große Ganze des Textes ein, doch dieses große Ganze zu benennen, ist kaum möglich.

Aus sechs Teilen bestehen die "Knochenuhren" jedenfalls. Und es ist nicht falsch, jeden dieser Teile als eine geistreiche, teils parodistische Auseinandersetzung mit bestimmten Untergattungen der Obergattung Roman zu bezeichnen. Dass die sechs Teile zusammengenommen wiederum einen Text bilden, der bei allen gattungstheoretischen Unschärfen recht eindeutig als Bildungsroman klassifiziert werden kann, zeigt bereits, wie gefinkelt der britische Schriftsteller ans Werk geht.

Die Protagonistin dieses übergeordneten Bildungsromans stammt, übrigens wenig genretypisch, aus dem proletarisch-kleinbürgerlichem Milieu. Und von dieser Figur, Holly Sykes, Tochter eines Gastwirte-Ehepaars aus einem schäbigen Londoner Vorort, wird der Text auch zusammengehalten. Als rotzige Göre lernen wir Holy im Jahr 1984 kennen, als eine mutige 74-Jährige tritt sie uns im Jahr 2043 im letzten Abschnitt entgegen.

Gut gegen Böse

1984 schreiben wir also zu Beginn des Romans und Holy reißt fünfzehnjährig wegen einer Liebschaft von zu Hause aus. Die Liebschaft geht in Brüche, dafür kommt sie Ed Brubeck näher, der in Teil drei ihr Mann werden soll. Dass da ein Adoleszenzroman nachgestellt wird, ist recht offensichtlich. Dazwischen wird aber auch noch Holys kleiner Bruder Jacko entführt, von - wie sich erst viel später herausstellt - Anachoreten, Menschen, die dadurch Unsterblichkeit erlangen, dass sie unschuldige Opfer "psychodekantieren", ein Vorgang, den die Opfer nicht überleben.

Den Anachoreten stehen als erbitterte Gegner Horologengegenüber. Auch das erfahren wir erst viel später. Sie sind von Natur aus unsterblich und daher auch nicht auf das Morden angewiesen, um ihren Fortbestand zu sichern. Der Hinweis, dass in dieser phantastischen Brechung das ewige Thema vom Kampf zwischen Gut und Böse eingeführt wird, erübrigt sich. Ebenso, dass die von der Entführung ihres Bruders gebeutelte Holly nicht zu den Mächten der Finsternis gehört, sondern auf der Seite der Guten kämpfen wird.

Teil zwei spielt sieben Jahre später und bringt eine geniale - soll man sagen Parodie oder lieber Spiegelung? - des klassischen Campus-Romans. Im Mittelpunkt steht diesmal ein gewisser Hugo Lamb, ein eigentlich recht sympathischer Snob, Hochstapler und Betrüger, der nach einem One-Night-Stand mit Holly auf die Seite der Anachoreten wechselt. Die beiden werden sich Jahre später wiedertreffen.

Weiter geht es im Jahr 2004, mit Teil drei. Der wird eindeutig von Ed Brubeck, Hollys nunmehrigem Ehemann, dominiert, und bildet, noch stärker als die anderen Teile des Buches, ein sehr eigenständiges und dennoch völlig stimmig mit dem Rest verbundenes Element: Ganz im Stil des guten alten Politthrillers erzählt dieser Abschnitt Brubecks Erlebnisse als Kriegsreporter im Irak und liefert dabei Einsichten in das Wesen von Krieg und Grausamkeit, die die meisten realen Kriegsreportagen gar nicht zu liefern vermögen.