
Jeden neuen Roman von Christian Kracht umweht eine Aufmerksamkeit, die ebensosehr seiner Person wie seinem Werk geschuldet scheint. Diesmal sorgte die Praxis seines Verlages, liebsame Literaturkritiker schon vorab mit dem Romanmanuskript auszustatten sowie Interviews zu gewähren und anderen nicht, schon für reichlich Wirbel, Neid und schlechte Laune. Und wie stets gibt es auch diesmal Stimmen, die Kracht vermuffte Deutschtümelei vorwerfen. Die kapriziöse Arroganz, mit der er selbst in Erscheinung tritt, findet sich auch im geradezu altmeisterlich gewordenen Stil seiner Bücher wieder.
Diesmal wagt Kracht eine Zeitreise zum Ende der Stummfilmära, Anfang der 30er Jahre: Friedrich Murnau ist kürzlich gestorben, Hitler greift nach der Macht, Charlie Chaplin ist bereits ein Weltstar, während sich in Japan ein Mann vor laufender Kamera aufschlitzt.
Ästhetisierter Tod
Die Ästhetisierung des Todes ist eines jener Themen, das Krachts Roman in vielen blutigen Varianten durchspielt. Dabei lässt er zwei Leben parallel verlaufen, das des Schweizer Regisseurs Emil Nägeli und das des japanischen Kulturfunktionärs Masahiko Amakasu. Ohne vom anderen zu wissen, arbeiten sie beide an einer "zelluloidenen Achse" zwischen Berlin und Tokio, welche die Vormachtstellung Amerikas eindämmen soll. Dabei lässt Kracht auch die ungewöhnlichen Kindheiten der beiden Männer Revue passieren.

Als Leser wartet man spätestes jetzt darauf, dass die Geschichte in Gang kommt, das tut sie aber nur bruchstückhaft. Rückblickend liest sich das als eine Aneinanderreihung von Filmszenen und Filmstills, die sich zu einem teils düsteren, teils putzigen Ausflug in die Vergangenheit fügen. Krachts allwissender auktorialer Erzähler schaut dabei aus ungemeiner Ferne auf sein Personal herab. Distanziert, fast teilnahmslos beäugt er die Figuren und folgt ihnen von Japan nach Deutschland, und wenn es sein muss auch nach Kanada und Hollywood. Dabei macht Kracht fiktive Gestalten mit tatsächlichen Filmleuten bekannt, beschert Heinz Rühmann schön blöde Auftritte und lässt die Filmkritiker Siegfried Kracauer und Lotte Eisner gemeinsam mit dem Regisseur Fritz Lang im Zug nach Paris fliehen, wo sie in einem herrlichen Besäufnis über dies und das und den deutschen Wald schwadronieren.
Charlie Chaplin weilt derweil in Japan und überlebt an der Seite des dortigen Premierministers ein Attentat. Im Mittelpunkt aber steht Emil Nägeli, der sich in Berlin mit den Nazis eingelassen hat und auf den großen Durchbruch wartet.
Abermals erweist sich Kracht als extrem eleganter Erzähler, dessen Prosa stets ein wenig nach Vanille und Pfeifentabak riecht. Sehr angenehm für alle, die das mögen. Diesmal fügt sich das Kapriziöse und Ziselierte seiner Sprache zudem gut zum japanischen Einschlag der Geschichte: Wiederholt streut der Autor japanische Ausdrücke ein, die wie Zauberworte aus einer anderen Welt klingen.
Krachts Faible für seltsame Lebensläufe ist im Übrigen nicht neu. In seinem vorherigen Roman, "Imperium", folgte er den Spuren des bizarren Aussteigers August Engelhardt. Den freilich gab es im Gegensatz zu Emil Nägeli wirklich.
Dasselbe gilt für seine Beschäftigung mit Japan. Bereits in seinem Reisetagebuch "Der gelbe Bleistift" aus dem Jahr 2000 schrieb Kracht über seine Erlebnisse in Tokio und Kyoto. Die Japan-Episode endet damit, dass der Autor sich das 1933 erschienene Buch "Lob des Schattens" von Junichiro Tanizaki kauft. Dessen Essay zeichnet die Gepflogenheiten und Reize einer japanischen Ästhetik nach, deren Grundelemente er im Spiel mit der Dunkelheit verortet.
Camera obscura
Das passt gut, denn mehrmals huldigt Kracht in "Die Toten" der camera obscura, einem dunklen Raum mit einem Loch, ohne deren Erfindung das Kino nicht denkbar wäre. Für diesen Roman über den Film als Medium politischer und persönlicher Kriegsführung steuert Tanizaki zudem eines der Motti bei: "Ich habe nur ein Herz, niemand kann es kennen außer ich selbst."
Aber, ach: All die Besonderheiten in Stil und Ausdruck, Krachts ausgesprochene Weltläufigkeit, die unvergesslichen Szenen, die vielen geglückten Sätze, Schönheit und Gewalt, das japanische Wortgeklingel und sein untrügliches Gespür für Details fügen sich hier zu keiner packenden Geschichte. Jedenfalls nicht für mich. Womöglich bezieht sich Kracht ja auf das im Roman aufspielende japanische No-Theater, dessen raffinierteste Geschichten sich durch einen Mangel an Handlung auszeichnen sollen.