
Eine Geschichte könnte so beginnen: Reihe dreiundzwanzig, hier sind wir. Von weiter vorn riecht es nach Essen, ein Mann schnarcht und eine Frau schaut auf, sie legt das Bordmagazin zur Seite und zieht ihre Handtasche unter dem Sitz hervor, holt ihr Telefon heraus, das in einer abgegriffenen Lederhülle steckt. Sie wischt über die Bildschirmoberfläche, wischt von Bild zu Bild:
Ein Restaurantbesuch mit einem Mann, ein Aussichtspunkt, ein Teller mit Essen und ein Glas Wein. Sie wischt regelmäßig, ohne sich aufzuhalten. Bis sie bei einem Foto ankommt, das wieder sie und den Mann zeigt, er hat seinen Arm um sie gelegt, seine Wange an ihren Kopf gedrückt, beide lachen in die Kamera.
Als ob sie diesem Moment nachhängt, als ob sie jetzt sofort dorthin zurückmöchte, wo sie zu diesem Zeitpunkt war, bitte, wenden Sie das Flugzeug, bitte, kehren wir um, die Frau starrt auf ihr Telefon. Dann legt sie Daumen und Ringfinger auf die Gesichter und zieht sie langsam auseinander, lässt die Köpfe wachsen, bis sie bei ihrem Lächeln angekommen ist. Sie schaut eine Weile auf den Bildschirm, setzt fort, das Bild zu vergrößern, bis es nicht mehr weiter geht. Sie sieht sehr lange ihre Zähne an. - Das könnte ein Anfang sein, denke ich, als wir über den Atlantik fliegen, ein paar Stunden vor Wien, und suche nach einem Stift, um aufzuschreiben, was ich gerade gesehen habe.
Anstoß zum Erzählen
Eine Geschichte könnte so beginnen, bedeutet nicht, dass sie genau da ihren Anfang nimmt, nicht einmal, dass diese Szene Teil des Erzählten bleiben wird. Es ist der Anstoß zum Erzählen, eine Möglichkeit, die in diesem Moment beginnt. Denn ein Text trägt stets mehr in sich, als auf den ersten Blick zu sehen ist.
Über mein Schreiben schreiben also. Es ist ein Zustand, über den ich sagen kann: Ich denke ständig darüber nach und gleichzeitig nie, weil es mich mit solch einer Selbstverständlichkeit begleitet.
Haruki Murakami, so las ich vor kurzem, hatte an einem sonnigen Nachmittag während eines Baseballspiels die Eingebung, schreiben zu müssen, es passierte, nachdem er den Ton gehört hatte, mit dem ein Ball auf einen Schläger traf und im Stadion vereinzelt Applaus aufkam. Am selben Tag noch ging Murakami in ein Schreibwarengeschäft, kaufte Manuskriptpapier und Füller und begann zu schreiben, ein halbes Jahr später war sein erster Roman fertig.

- © Otto Reiter
Das ist eine gute Geschichte, sie kommt einer Offenbarung nahe, einer Erleuchtung. Ich habe kein solches Schlüsselerlebnis, nichts Großes zu erzählen. Und doch, einen gewissen Anstoß zum Erzählen gab es, auch wenn er mich nicht zum Schreiben an sich brachte, das schlich sich ein, sobald ich schreiben konnte, sondern eher dorthin, wo das Material liegt, das mich zu meinen Texten führt.
Während meines Studiums arbeitete ich im Chronikressort einer Tageszeitung. Es ist sicher nicht das anspruchsvollste Ressort, in das es einen verschlagen kann, vielleicht aber das härteste. Eine meiner ersten großen Geschichten als Praktikantin war ein Verkehrsunfall: Ein Ehepaar, das seinen freien Tag für einen Fahrradausflug nutzte, ein Holztransporter, der auf der Bundesstraße umkippte, genau in dem Moment, als die beiden an ihm vorbeifuhren. Das Ehepaar und der Lastkraftwagenlenker starben an der Unfallstelle. Ich war Anfang zwanzig, und ich musste O-Töne einfangen, damit die Geschichte menschlich wird, wie es so schön hieß - im Idealfall mit den Kindern sprechen, ein wenig jünger als ich, mit Verwandten, Bekannten, zumindest mit Leuten aus dem Ort. Auf meinem Computerbildschirm waren Fotos der Unfallstelle, Markierungen auf dem Asphalt, Baumstämme, ein demoliertes Fahrrad, ich klickte sie weg.
Nach einer Weile erreichte ich den Pfarrer, bei der Familie ließ ich es nur kurz läuten, in der Hoffnung, niemand würde ans Telefon gehen. Keine Frage ist unangebrachter, als Angehörige in solch einer Situation nach ihrem Befinden zu fragen, und die unmenschlichsten Geschichten sind oft die, die unter dem Stichwort "menschlich" verkauft werden, das lernte ich bald.
Zuhören & Hinschauen
Ich sollte in den folgenden Jahren noch ein paar Mal in vergleich- bare Situationen kommen. Mit der Zeit härtet man ab, ein Verkehrsunfall ist ein VU, ein Selbstmord ein SM, und doch möchte ich so etwas nie wieder machen, etwas schreiben, was ich nicht schreiben möchte, Geschichten aus Menschen herausziehen, mit wenig Rücksicht auf das Gegenüber, das betroffen ist, und mit großer Rücksicht auf jenes, das beim Frühstückskaffee betroffen sein möchte, weil es sein Abonnement bezahlt. Dennoch, was ich an guten Tagen in der Redaktion gelernt habe: Das Hineingehen in neue Situationen, das Zuhören und das Sprechen, das Hinschauen, das Beobachten, wie jemand erzählt, auf welche Art und Weise. Geblieben ist mir ein großes Interesse für die scheinbar toten Winkel, wo einem das Leben oft umso heftiger entgegenschlägt.
Seither ist Schreiben für mich unmittelbar mit der Außenwelt verbunden, der Alltag zieht mich an, es ist ein ständiges Sammeln von Sätzen, Situationen, Spuren und Bildern. Ich schreibe auf, ich fotografiere, ich nehme auf, ich bin froh, dass mein Telefon das alles kann. So wächst etwas heran, das etwas zum Schwingen bringt, ein späterer Ausgangspunkt sein kann, manchmal ist es auch nur die Melodie, die von einer Beo-bachtung oder einem Gespräch bleibt. Latentes Material könnte man es in Anlehnung an Klaus Merz nennen, der ein Großer da-rin ist, mit wenigen Sätzen unheimlich viel zu erzählen.
So sehr mein Schreiben die Außenwelt braucht, so sehr braucht es aber auch die Einsamkeit, einen leeren Raum, der vor mir liegt und durch nichts eingeschränkt, von niemand anderem betreten wird. Ich spreche nicht über Texte, während ich an ihnen arbeite, ich halte sie dicht bei mir. So lange, bis der Raum so weit eingerichtet ist, dass ich ihn herzeigen möchte, dass nur noch kleine Änderungen vorzunehmen sind.
Ein befreundeter Lyriker erzählte mir vor kurzem, dass er immer Schuhe anzieht, wenn er sich in einen Text begibt. Ich brauche etwas um den Kopf, immer meine Kopfhörer, manchmal auch eine Kapuze, eine Haube oder ein Tuch. Ich erinnere mich, dass mein Vater in seinem Bücherregal stets eine türkise Häkelhaube liegen hatte, ich weiß nicht, wo sie herkam, ob er sie tatsächlich zum Lesen trug oder nur uns Kinder damit zum Lachen bringen wollte. Vielleicht wollte er uns damit aber auch vermitteln, was Bücher sein können: an guten Tagen ein wohliges Gefühl um den Kopf. In düsteren Zeiten ein Schutz gegen widrige Verhältnisse, gegen den Wind, der einem entgegenbläst.
Der Raum um uns
Ich war oft in diesem Zimmer mit dem Bücherregal, ich zeichnete in Bücher, als ich noch nichts mit Buchstaben anzufangen wusste, später schrieb ich Buchtitel ab, ohne ihren Zusammenhang zu erfassen. Vor kurzem fanden meine Eltern einen Zettel, darauf meine Kinderschrift: Die revolutionäre Kraft der Arbeiterklasse, ich musste vier Mal ansetzen, um das Wort revolutionär richtig zu schreiben, meine Schrift wurde immer größer, revolutionär, dieses Wort ärgerte mich, bis es schließlich gelang.
Schreiben ist für mich immer auch mit der Frage verknüpft, in welcher Gesellschaft wir leben und leben möchten, wie der Raum um uns gestaltet ist. Vielleicht hat das mit diesen ersten Büchern zu tun, die mich umgaben, die zu einem Großteil soziologische und politische Titel waren, auf jeden Fall aber mit dem Alltag, der mich zum Schreiben bringt und Geschichten auslöst, dem Alltag, der untrennbar mit gesellschaftspolitischen Fragen zusammenhängt.
Kürzlich bin ich auf Eugene Hartleys Untersuchung zur sozialen Distanz gestoßen. Hartley erfand dazu nichtexistierende Gruppen, er stellte Fragen. Jetzt mal ganz ehrlich: Möchten Sie Danieraner als Nachbarn? Unter uns: Würden Sie einen Danieraner als Mann Ihrer Tochter akzeptieren?
Dreißig Prozent der Studienteilnehmenden antworteten, sie würden die Danieraner nicht kennen. Der Rest sprach sich weitgehend für eine Abgrenzung aus. Vorurteile, so das Fazit, hängen nicht mit tatsächlichen Erfahrungen zusammen, nicht einmal damit, was über eine Gruppe gehört wurde, es genügt das Wissen um das Anderssein. Hartley führte seine Studie Ende der 1930er Jahre im Osten der USA durch.
Veröffentlicht wurde "Problems in Prejudice" 1946, siebzig Jahre vor Hofer, Orbán, Trump, Le Pen, Farage und Wilders. Heute, so scheint mir, würde die Studie nicht anders ausfallen, und ich bin froh, wenn ich mich irre. Die diffuse Angst vor dem anderen, der Irrsinn zu glauben, dass ein gutes Leben gelingt, wenn der Zaun um einen nur hoch genug ist, dass an der Außenwelt unbeteiligt ist, wer nur fest genug die Augen schließt, dass das Eigene ohne das Andere gelingen kann. Das alles ist unmittelbar mit der Welt verbunden, die uns umgibt, und diese Welt spielt auch in mein Schreiben hinein. Mit erhobenem Zeigefinger möchte ich allerdings keinesfalls vor meinen Figuren stehen, eher lässt es sich so beschreiben: Mit diesem Zeigefinger einen Vorhang zur Seite schieben und schauen, was dahinter liegt.
Und doch: Ein Roman besteht in erster Linie nicht aus Schicksalen, sondern aus Sprache und Form, das sind die Säulen, die alles tragen. Es ist kein bloßes Abbilden der Wirklichkeit, die liegt als latentes Material darunter, es ist ein Entlangschreiben an der Realität, eine Montage von Versatzstücken. Literatur ist eher ein Medium der Fragen als der Antworten, weil sich immer wieder neue Fragen auftun, nach deren Antworten es zu suchen gilt. Und vor allem ist sie eines nicht: tagesaktuell. Darin unterscheidet sich das literarische Schreiben vom journalistischen, in der Freiheit, die Realität aufzubrechen. Leerstellen halte ich dabei für ein zentrales Element. Ich glaube daran, dass mit weniger oft mehr erzählt wird.
Mich interessiert, wie weit ich zurückdrehen kann, damit der Text möglichst stark entgegenschlägt. Ein Schweigen kann lauter sein als ein Schrei. Und eine Geschichte trägt stets mehr mit sich, als das, was man gerade hört, es geht immer auch um das, was dazwischen liegt. Mich interessieren die Leerstellen, und mich interessieren Nahaufnahmen, die Details. Es ist wie bei einem Interview: Wohin geht der Blick beim Erzählen, wohin greifen die Hände, was erzählt die Umgebung, in welchem Kontrast steht sie zum Gesagten? Überhaupt, Kontraste: Dem Trostlosen versuche ich mit dem Absurden entgegenzuhalten, dem Ernst mit Humor, das braucht es, damit der Text in der Waage bleibt.
Die Kontraste sind es auch, die mich beim Schreiben zusammenhalten: Hier die Außenwelt, die das Erzählen anstößt, voller Menschen und Geräusche, dort die Innenwelt, in der das Erzählen möglich wird, ein Raum nur für mich, der ruhig ist und gleichzeitig laut, weil er nicht ohne Musik auskommen kann. Schreiben ohne Musik ist für mich unvorstellbar, sie erzeugt die nötige Stille, die ich bei der Textproduktion brauche, meine Kopfhörer schirmen mich von der Außenwelt ab. Nie würde ich sie auf der Straße tragen, aus Angst, einen einzigen Satz, ein Geräusch zu verpassen, aber am Schreibtisch sind sie essenziell, mit ihnen beginnt das Eintauchen in den Text. Es ist wie mit unserer Katze, die zu miauen beginnt, wenn ich nach der Zahnbürste greife, weil das Zähneputzen für sie unwiderruflich mit dem Jagen einer Schnur verbunden ist. Unter meinen Kopfhörern bin ich bei mir, es ist ein Nachhausekommen. An manchen Schreibtagen schmerzen abends meine Ohren, weil die Musik sehr laut sein musste, zum Glück nicht zu oft. An manchen Tagen verbrenne ich unzählige Streichhölzer, weil ich meine, dass mir das hilft, voranzukommen, mich zu fokussieren, manchmal verbrenne ich mir dabei die Finger, weil ich gedanklich nicht mehr bei der Flamme bin. Wer meint, Schriftstellerinnen führen ein sicheres Leben, irrt.
An jenem Tag, als die Frau im Flugzeug neben mir ihre Zähne vergrößerte, kehrte ich nach drei Monaten aus den USA zurück. Als ich durch den Flughafen ging, staunte ich über meine Sprache, über die Länge der Wörter, die mir all die Wochen nicht im öffentlichen Raum begegnet waren.
Dieses große Gefühl des ungewohnten Vertrauten, es hält nur für kurze Zeit an, und es ist ein kostbares Gefühl, weil das Selbstverständliche in den Vordergrund tritt und die Wahrnehmung eine andere ist. Unternehmensberatung, las ich, Elfmeterschießen, Frühstücksangebot, das alles im Bewusstsein eines Nachnamens, der fast genau so lang ist, und Wochen entfernt von dem Wort Bundespräsidentschaftsstichwahlwiederholungsverschiebung, das Freundinnen und Freunde im Ausland zum Staunen bringt.
Im Gehen griff ich nach meinem Telefon, um folgenden Satz zu notieren: Zurück in Österreich, es riecht nach Wurst, Kaffee und ein bisschen Tragik. Trafik wollte ich schreiben, aber die Autokorrektur meines Telefons verbesserte mich.
Einfangen von Leben
Ich kann das Schreiben planen wie ich will, es bleibt stets ungewiss. Es ist ein Suchen nach etwas, das vielleicht für einen kurzen Moment in der Ferne vage zu erkennen war, es ist ein Versuchen, dorthin zu finden, wieder und wieder, ein Unterwegssein auf allen Ebenen, ein Hineinstolpern in Situationen und Bilder, ein Abkommen vom markierten Weg. Immer wieder gilt es das Gewohnte zu verlassen, nichts öffnet den Blick so sehr. Noch einmal Klaus Merz: "Die Witterung eines Wortes, / eines Satzes aufnehmen, / die wirklich gesagt / sein möchten. // Das hat mit Jagd / zu tun, mit Sehnsucht. / Und es kann lange / dauern."
Ein Buch braucht Zeit. Vor kurzem ist mein Roman erschienen, an dem ich in den letzten Jahren gearbeitet habe, jetzt stehe ich wieder am Anfang, habe mir den Teppich unter den Füßen weggezogen und beginne von vorn, mich schrittweise voranzutasten. Es ist ein Unterwegssein, ein Einfangen von Leben, ein Vertrauen darauf, dass das eine zum anderen findet.
Als ich vor ein paar Wochen in Wien meine Buchpräsentation hatte, bekam ich ein Glückskeks geschenkt. Seither hängt ein kleiner länglicher Zettel zwischen all den Post-Its über meinem Schreibtisch. Tomorrow will be your lucky day, steht darauf. Ein Versprechen, das kein Ende nimmt; ein ständiges Suchen und Hoffen, das ist Schreiben.