Mit ihrem Buch "Unorthodox" (Secession Verlag) hat Deborah Feldman einen vieldiskutierten Bestseller geschrieben: Sie erzählt darin von ihrem Leben in einer ultraorthodoxen, chassidischen jüdischen Gemeinde im New Yorker Hipsterviertel Williamsburg. Es war ihr nicht nur verboten, normale Kleidung zu tragen und weltliche Bücher zu lesen, sie musste nach ihrer (arrangierten) Hochzeit auch ihre Haare abrasieren und eine Perücke tragen. Sexualität war ein Tabu, die resultierenden zwischenmenschlichen Schwierigkeiten schildert Feldman schonungslos. Die Autorin hat die Gemeinde verlassen, wurde dafür von ihrer Familie verstoßen. Im darauffolgenden Buch "Exodus" berichtet sie von ihrem Leben als alleinerziehende Mutter nach ihrer Flucht. Ihr drittes Buch wird sich ihrem neuen Leben in Berlin widmen, wo sie seit zwei Jahren lebt. Die "Wiener Zeitung" traf die fließend Deutsch sprechende Schriftstellerin bei den Erich-Fried-Tagen.

Fühlt sich politisch vereinsamt: Deborah Feldman (30). - © Mathias Bothor
Fühlt sich politisch vereinsamt: Deborah Feldman (30). - © Mathias Bothor

"Wiener Zeitung": Wie waren die Reaktionen Ihrer Gemeinde auf Ihr Buch "Unorthodox"?

Deborah Feldman: Die Reaktion war krass, weil das erste Mal jemand wie ich aus dieser Welt so viel Aufmerksamkeit bekommen hat, und das ist gefährlich für diese Gemeinschaft, denn die haben so lange so überlebt, weil sie keine Aufmerksamkeit bekommen haben. Wenn man in dieser Welt lebt, muss man sich jeden Tag rechtfertigen, warum man hier bleiben soll. Man muss überzeugt sein, dass die anderen unrecht haben, nur so kann man mit so einem Leben umgehen. Sie verfolgen mit psychologischer Bedrohung ihr Ziel, dich zum Scheitern zu bringen. Das wurde eine immer größere Last für mich. In Europa hatte ich das Gefühl, in einer anderen Zeit und in einer anderen Welt zu sein, das hat einen Puffer zwischen mir und diesem Leben geschaffen.

Sie sind von einer jüdischen Gemeinde, die den Holocaust als Strafe Gottes sieht, ausgerechnet nach Berlin gezogen. Ist das eine Botschaft?

Wenn ich nach Frankfurt gezogen wäre, schon. Aber Berlin ist in diesem Sinne nicht Deutschland, Berlin ist, was Paris in den 20er Jahren, New York in den 70er Jahren war. Berlin ist als Aggregatzustand gesehen für mich nicht fest, sondern eher ein Gas. Alles kann daraus werden. Es gehört zu niemandem und zu nichts. Das war auch immer so. Viele europäische Städte sind so steif wie Paris, die sind an der Oberfläche kosmopolitisch, aber neue Menschen bleiben immer Zugezogene. In Berlin habe ich kapiert, dass es einen Ort gibt, wo ich zuhause sein kann.

Wie schätzen Sie die Situation der Juden in Europa derzeit ein?

Es kommen viele Israelis und Amerikaner, es gibt eine neuerweckte Neugier, Zuneigung und Leidenschaft. Die ersten zwei Generationen, die sich in den USA oder Israel wieder ein Leben aufgebaut haben, für die war Europa verbrannte Erde. Meine Generation hat das Gefühl, da liegt unser Erbe. Europa bietet ein größeres Identitätsinventar. Für viele ist tröstlich und befriedigend, dass man die jüdische Identität in den Vordergrund holen kann. In den USA bist du in erster Linie amerikanisch, alles andere ist nebensächlich. In der liberalen Atmosphäre gibt es keinen Platz, darüber zu reden, wie jüdische Identität bedroht wird. Es gibt so viele andere Stimmen, LGBT, Hispanics und Afroamerikaner, die auch politisch und sozial wichtiger sind, weil ihre Situation schlechter ist. Ein Afroamerikaner kann sagen: Meine Geschichte ist wichtig für die Geschichte dieses Landes. Aber als Jude ist es schwierig, das Jüdische als relevant für das amerikanische Erbe zu finden.

Sie selbst mussten Ihre Haare rasieren und Perücke tragen. Wie geht es Ihnen bei der Kopftuch-Debatte?

Ich bin politisch sehr, sehr links, aber in einem Sinn, in dem für mich "links" verbunden ist mit dem Glauben, dass alle Menschen ihre Rechte gleich verdient haben, aber dabei kann auch niemand besonders privilegiert sein. Das heißt, wenn man als religiöse Gruppe Toleranz von einer Gesellschaft fordert, so viel Toleranz, dass es sogar den gesellschaftlichen Werten widerspricht, dann hat sich die Gruppe erhoben von der Gesellschaft. Das spricht gegen meine linken Werte. Ich finde, jeder Mensch muss die privaten Rechte haben, so zu glauben, wie er will. Aber sobald er sich von der Gesellschaft abspaltet und eine eigene Gesellschaft aufbaut, sind seine Rechte auch gegenstandslos. Wenn man Mitglied in einem Fitnesscenter ist, bekommt man Vergünstigungen. Du kannst nicht ins Fitnesscenter gehen, ohne Mitglied zu sein, und diese Vergünstigungen wollen.

Sind die Linken zu tolerant?

Die Linken hier sind so tolerant, dass sie es gerne hätten, dass ich in meiner Gemeinschaft geblieben wäre. Ich habe mich in einer Position gefangen mit dieser Haltung, die Linken wollen mich nicht, und ich kann die Mitte und die Rechte nicht akzeptieren. Das bedeutet, dass ich mich politisch sehr einsam fühle, was ich schon von vielen anderen Juden gehört habe. Die Toleranz der Linken ist so extrem, die ist fast eine Karikatur. Aber ich verstehe das auch, die Deutschen haben so eine Angst, ihre Geschichte zu wiederholen, aber genau in die Gefahr geraten sie, die werden alles tolerieren, bis die Welt zu Ende ist.

Auf der anderen Seite: Was jetzt in Amerika abgeht, ist so erschreckend, dass ich zehnmal lieber die deutsche Situation habe. Ich habe nur Angst, dass diese Entwicklung auch hierherkommen wird. Nicht so schnell, erst in ganz Europa. In Deutschland zuletzt. Kein System ist unfehlbar.

Hatten Sie nach allem, was Sie erlebt haben, nie den Wunsch, das Jüdische ganz hinter sich zu lassen?

Das Jüdischsein kann man nicht tilgen, wie meine Großmutter immer gesagt hat. Es gibt in mir aber immer noch den Wunsch, wie die anderen zu sein, und immer noch die Last, anders zu sein. Ich werde nie erleben, was es bedeutet, normal zu sein.