Große Stimme Russlands: Olga Slawnikowa. - © privat/Verlag
Große Stimme Russlands: Olga Slawnikowa. - © privat/Verlag

Mann trifft Frau. Affäre folgt. Das ist nichts Neues. Selbst die Tatsache, dass sich diese Begegnung in stürmischen Zeiten (dem Aufflammen einer Revolution während der 100-Jahr-Feier zur ursprünglichen Revolution) ereignet, verdiente kaum das Prädikat "genre-defying".Olga Slawnikowas Roman "2017" trägt dieses aber zurecht. Die Autorin verwischt Genregrenzen und verbindet unterschiedlichste Handlungsstränge mühelos. "2017" ist weder eine Liebesromanze, noch reine Dystopie, trotz negativem Weltentwurf. Kein klassischer Sowjet-Thriller, kein Sci-Fi-Roman, dafür etwas Fantasy und Politsatire. "2017" ist mehr als die Summe seiner Teile.

In einer nicht näher benannten Stadt in der mythenumrankten Region des riphäischen Gebirges verabschiedet der Protagonist Krylow, ein hochtalentierter Edelsteinschleifer, seinen Professor und Arbeitgeber Anfilogow zu einer illegalen Edelstein-Expedition. Am Bahnhof trifft er auf eine un-scheinbare Frau, die ihn dennoch in den Bann zieht.

Transparenz als Ideal

Diese unerklärliche Anziehungskraft, welche die beiden von jenem ersten Treffen an verbindet, mündet in eine Affäre, die auf den Zufall setzt: Ohne je die eigene Identität preiszugeben, vereinbaren Krylow und Tanja ihre Rendezvous, nach einem Zufallsprinzip aus dem Stadtplan gewählt.

Die Eigenartigkeit dieses Arrangements basiert auf Krylows Argwohn gegenüber der realen Welt. Er will seine Beziehung mit Tanja vor Falschheit und Manipulation schützen und sie "transparent" halten. Transparenz stellt für Krylow seit Kindheitstagen einen Idealzustand höherer Ordnung dar: "Transparenz war Zauberei. Alle normalen Gegenstände waren Teil der gewöhnlichen, diesseitigen Welt: egal, wie raffiniert sie gebaut, wie stabil sie gelötet waren, man konnte sie aufmachen und nachsehen, was drinnen war. Das Transparente gehörte einer anderen Ordnung an - es aufzumachen, in sein Inneres zu gelangen, war unmöglich."



Als Krylow eines Tages bemerkt, dass Tanja und ihm an unterschiedlichen Treffpunkten stets derselbe Mann begegnet, fühlt er eben diesen Idealzustand bedroht und verdächtigt seine Ex-Frau Tamara - eine Glamourfrau der riphäischen Geschäftswelt -, einen Spion auf ihn angesetzt zu haben, um auf diesem Weg eine potentielle Gegenspielerin zu beseitigen.

Während der Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Revolution von 1917 passiert, was passieren muss: Krylow verliert Tanja aus den Augen, als kostümierte Rot- und Weißgardisten beginnen, aufeinander zu schießen. Der vermeintliche Spion ist somit Krylows einzig verbleibendes Bindeglied zwischen der Realität und der ideal-transparenten Tanja-Welt. Um ihn und in weiterer Folge seine Geliebte wiederzufinden, ist Krylow nun auf die Hilfe seiner Ex-Frau angewiesen.

Zeitgleich zu Krylows Odyssee verfällt das Land in totales Chaos: Tamaras zwielichtige Geschäftsmethoden kommen ans Licht und vernichten nicht nur ihre Existenz; Anfilogow wird in der unberührten Landschaft des Nordgebirges von der mystischen Steinernen Jungfer, Herrin des Berges, heimgesucht, und eine inszenierte Kostümrevolution breitet sich über das gesamte Land aus.

Olga Slawnikowa beschreibt in ihrem Opus Magnum, das 2006 mit dem russischem Booker-Preis ausgezeichnet wurde, ein dystopisches Russland des 21. Jahrhunderts - futuristisch nur in Maßen, doch durch und durch zerrüttet. Eine Welt jenseits humanistischer Ideale, eine Welt des Überflusses, der jedoch jenen vorbehalten ist, welche ihn sich leisten können.

Barocker Stil

Trauernden wird mittels Kreuzfahrten Trost gespendet, Angestellte werden wie in TV-Shows gecastet, und jeder spielt seine geskriptete Rolle in dem System, das Mensch und Natur gleichermaßen auffrisst. Literatur hat in dieser Welt jeglichen Stellenwert verloren, denn "die Informationsflut spült alles weg, was irgendeine Bedeutung haben könnte".

Olga Slawnikowa zählt als Schriftstellerin, Literaturkritikerin und Koordinatorin des russischen Literaturpreises "Debüt" zu den bedeutendsten Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur. Dem grellen Zerrbild einer kapitalistischen Gesellschaft stellt sie in "2017" die Schönheit der Natur, personifiziert in der Herrin des Berges, gegenüber und versucht so die schwer fassbare Situation Russlands durch eine imaginierte Größe zu klären. Ihr "barocker" Stil, wie ihn der Verlag bezeichnet, mag gewöhnungsbedürftig sein. Doch genau diese Dichte an bildhafter Sprache verleiht dem Werk seine komplexe Vielschichtigkeit. Russischer Literatur wird oft vorgeworfen, zu schwerfällig, zu deprimierend, zu kopflastig zu sein. Nun kann sich der Leser vom Gegenteil überzeugen.