Punks, Prostituierte, Kriminelle und gesellschaftliche Randgruppen bildeten das bevorzugte Figurenensemble ihrer ersten Veröffentlichungen. Mit ihren Romanen "Baise-moi - Fick mich", "Teen Spirit" und "Pauline und Claudine" wurde die 1969 in Nancy geborene Virginie Despentes zu einer literarischen Ikone der französischen Subkultur. Ihr in Frankreich bereits 2015 veröffentlichte Roman "Vernon Subutex" ist erst heuer unter dem Titel "Das Leben des Vernon Subutex" auf Deutsch erschienen. Obwohl Despentes in diesem Buch die Pariser Kultur- und Kunstszene ins Zentrum ihrer Beobachtungen und Beschreibungen rückt, überzeugt der Roman als kompromisslos-nüchternes Porträt der gesamten französischen Gesellschaft. Blendet man den spezifisch französischen Hintergrund weg, so spiegelt das so schonungslos wie virtuos gezeichnete Bild aber genauso die Welt vieler europäischer Staaten wider.

Seelisch Versehrte und vom Leben Gebeutelte sind sie alle, die Menschen, deren Geschichten und Schicksale in diesem Roman erzählt werden. Anhand der Lebensgeschichte von Vernon Subutex führt Despentes nicht nur den unaufhaltsamen sozialen Abstieg ihres Romanhelden vor, sondern hält ihren Landsleuten einen gnadenlos-entlarvenden Spiegel vor. Sie spürt den Gründen für das kontinuierliche Auseinanderfallen der französischen Gesellschaft nach, fängt die Gemütsverfassung eines Großteils der Bevölkerung ein und sucht die Gründe für den politischen Rechtsruck.
Antworten findet sie in den gesellschaftlichen Verwerfungen und Verwüstungen, die die politische Entwicklung und die ökonomische Krise nach sich gezogen haben - Xenophobie, Gentrifizierung, Digitalisierung, Prekariat, Neoliberalismus, Populismus und Verarmung bedrohen den sozialen Frieden und das Gemeinwohl. Despentes gnadenlose und treffsichere Analyse beruft sich auf ein vielschichtiges und vielstimmiges Figurenensemble und ihr Roman gibt Nachhilfestunden in relevanter literarischer Gesellschaftskritik.
Absturz ohne Netz
Vernon Subutex besitzt einen florierenden Plattenladen in Paris - bis die Musikindustrie die Digitalisierung entdeckt und das Interesse an der Vinylproduktion verliert. Mit dem Ende des Plattenladens "Revolver" im Jahr 2006 beginnt der Roman - und auch der unaufhaltsame soziale Abstieg des Romanhelden. Als schließlich auch noch der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht und Forderungen stellt, droht ein tiefer Fall.
Die Restbestände des Plattenladens sind rasch verkauft, die Gelegenheitsjobs werden rarer und der finanzielle Bankrott geht mit zunehmender Antriebslosigkeit des Romanhelden einher. Der Weg vom Szenehelden - der Frauenschwarm mit musikalischer Deutungshoheit konnte sich in seiner erfolgreichen Zeit der Schulterklopfer und Freunde kaum erwehren - zum Clochard scheint vorgezeichnet. Doch so leicht lässt sich der sympathische Antiheld dann doch nicht unterkriegen.
Er beginnt unter Vorspiegelung falscher Tatsachen - seine Rückkehr aus Kanada ist nichts anderes als eine Notlüge - sich bei alten Freunden und Weggefährten einzuquartieren und schlägt sich auf diese Weise durch, ohne gleich als Obdachloser auf der Straße zu landen. Der Reigen der Herbergsgeber reicht von Xavier, einem liebevollen Familienvater und glücklosen Drehbuchautor, der Flüchtlinge und Kollegen hasst, über Aisha, die zum Islam konvertiert ist, Patrice, den Aushilfsbriefträger der seine Frau schlägt, bis zu Celeste, der freizügigen Tochter eines ehemaligen Stammkunden seines Plattenladens und schwillt Seite für Seite zu einem vielstimmigen Chor der Empörten, Deklassierten und vermeintlichen Verlierer an.
Personen-Potpourri
Virginie Despentes nützt die Odyssee ihres Romanhelden durch Pariser Wohnungen zu einem kritischen Blick auf die sich verändernde französische Gesellschaft, und ihr Roman wird zu einem personenbezogenen Episodenroman, in dem Protagonisten aus den unterschiedlichsten Milieus von der Autorin unkommentiert, möglichst authentisch kommen. So entsteht ein vielgestaltiges und lebensnahes Panorama der französischen Gegenwart. Indem Despentes darauf verzichtet, die Moralkeule zu schwingen, gelingt ihr die nüchtern-kommentarlose Beschreibung eines sozialen Abstiegs noch viel eindringlicher- und sie festigt damit ihren Platz unter den wichtigsten Stimmen der französischen Gegenwartsliteratur.