Kann ein Vergleich dieser so verschiedenen Charaktere gelingen? - Ja, er kann. Denn zum einen bedeutet "vergleichen" ja nicht "gleichsetzen", zum anderen findet Wieland eine interessante Gemeinsamkeit zwischen Hofmannsthal und Brecht: Sie sind beide Zeitgenossen der "modernen Frau", die zu Beginn des 20. Jahrhunderts als auffallender Sozialcharakter auftritt. Die Dramatiker Hofmannsthal und Brecht begegnen ihr vor allem in der Gestalt von Schauspielerinnen, denen sie Stücke auf den Leib schreiben: Hofmannsthals "Elek-tra" lebt von der kongenialen Interpretation der Hauptrolle durch Gertrud Eysoldt. Brecht ist umgeben von hochbegabten Schauspielerinnen, die er einerseits für seine Zwecke instrumentalisiert, denen er aber andererseits Möglichkeiten am Theater verschafft, die sie ohne ihn nicht hätten. Neben seiner Frau, Helene Weigel, stellt Wieland in einem eindrucksvollen Porträt Carola Neher vor, die 1928 bei der Uraufführung der "Dreigroschenoper" die Polly sang und spielte.

Vor 30 Jahren, am 26. Jänner 1988, ist der britische Kulturtheoretiker und Romancier Raymond Williamsim Alter von 67 Jahren gestorben. Auch wenn er selbst es bestritten hat, gehörte er doch zu den theoretischen Wegbereitern der "Cultural Studies", die in den angelsächsischen Ländern die traditionelle Geisteswissenschaft mittlerweile weitgehend abgelöst haben. Ein 2017 erschienener Sammelband, an dem auch Wiener Wissenschafter und Wissenschafterinnen mitgearbeitet haben, rekonstruiert nun die schon etwas verblasste Bedeutung dieses Intellektuellen, der zu Lebzeiten erheblichen Einfluss auf die scientific community ausgeübt hat.

Williams dachte in marxistischen Begriffen, modifizierte aber das mechanistische Kulturverständnis dieser Lehre erheblich. Insbesondere ersetzte er das schematische Verständnis von der Kultur als "Überbau" einer ökonomisch bestimmten "Basis" durch differenziertere Beschreibungsmuster, in denen mehr von Interdependenzen und Wechselwirkungen als von Abhängigkeiten und Ableitungen die Rede ist. In diesem systematischen Zusammenhang kam es dann auch zu einer folgenreichen Erweiterung des Kulturbegriffs: Williams definierte "Kultur" in einer seinerzeit vieldiskutierten Formulierung als "a whole way of life", d.h. also als ein umfassendes Ausdrucks- und Bedeutungssystem, zu dem nicht nur Symphoniekonzerte und Gemäldegalerien gehören, sondern auch Essgewohnheiten, Freizeitvergnügungen, Sportveranstaltungen usw.

Working class culture

Diese sehr weite Vorstellung von Kultur war für Williams notwendig, um der "working class culture" Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und damit seiner eigenen Herkunft aus der walisischen Arbeiterschaft die Treue zu halten. In einem der Beiträge untersucht Ingrid von Rosenberg das weniger bekannte Romanschaffen von Williams und interpretiert es als ausdauernden Versuch des Cambridge-Professors, die "Klassensolidarität" nicht aufzugeben.

Von manchen heutigen Vertretern der "Cultural Studies" wird, wie dem Band ebenfalls zu entnehmen ist, diese Treue zur britischen Arbeiterkultur allerdings als euro- und ethnozentrisch abgelehnt. Daran kann man ermessen, wie sehr sich das kulturwissenschaftliche Denken in den letzten 30 Jahren verändert hat.

Da Williams ein komplexer Theoretiker war, sind auch die Aufsätze, die sich mit seinem Werk beschäftigen, philosophisch anspruchsvoll. Wer sich aber der "Anstrengung des Begriffs", von der einst Hegel sprach, nicht verweigert, kann diesem Band aufschlussreiche kulturtheoretische Erkenntnisse abgewinnen. Es wäre freilich kein allzu großes Zugeständnis an bürgerliche Lesegewohnheiten gewesen, wenn das theoriegesättigte Buch wenigstens eine kurze biographische Skizze von Williams’ Leben und Werk enthielte.