Der "Eigensinn" ist mittlerweile eine Art Markenzeichen der österreichischen Literatur geworden, wie etwa die Reihe "Österreichs Eigensinn" beweist, die bei Jung & Jung erscheint und kanonische Texte neu auflegt. Nun ist es immer bedenklich, wenn sich ein Begriff, der auf Besonderes verweist, verallgemeinert. So viele eigensinnige Geister gibt es auch in Österreich nicht, dass man diese Tugend geradezu zum Nationalcharakter erklären könnte. Der Salzburger Autor Karl-Markus Gauß allerdings verdient dieses schmückende Beiwort schon. Das zeigt der Sammelband "Von der Produktivkraft des Eigensinns", der die "Literaturen" (Plural!) erschließt, die Gauß im Lauf seines produktiven Schreib-, Reise- und Publikationslebens bisher geschaffen hat. Namhafte österreichische Wissenschafterinnen und Wissenschafter veranstalteten 2014, zum 60. Geburtstag des Autors, in Salzburg ein Symposium, dessen schriftliche Resultate nun als lesenswertes Buch vorliegen.
13 Beiträge stellen die thematische Vielfalt des Autors vor: Der introspektive "Jahresbuchschreiber" kommt ebenso zur Sprache wie der weltkundige Reiseschriftsteller und der Literaturkritiker und Essayist, der sich große Verdienste um die Wiederentdeckung vergessener Autoren erworben hat. Dieser thematischen Breite entspricht, wie in eingehenden Textanalysen nachgewiesen wird, ein Reichtum an stilistischen Möglichkeiten und eine niemals aussetzende reflexive Kontrolle über das Geschriebene. Was aber den besagten Eigensinn angeht, so zeigt sich der wohl am deutlichsten in einer Qualität, die Evelyne Polt-Heinzl in ihrem Beitrag in germanistischem Nominalstil so umschreibt: "Wogegen Gauß auftrat und auftritt, ist ein sich allzu heimisches Einrichten in einmal ausformulierten Frontstellungen."
Lyrik zum Hören
Die Lyrik des 20. Jahrhunderts wirkt in großen Teilen nicht mehr unmittelbar zeitgenössisch. Insbesondere das Pathos ist uns in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen, und es ist nichts Vergleichbares an seine Stelle getreten. Das fällt besonders auf, wenn man die Gedichte nicht nur liest, sondern sie auch hört - und zwar gesprochen von den Autorinnen und Autoren selbst.
Vor kurzem ist die Stimme der Wiener Dichterin Erika Mitterer auf einer CD erschienen. Auch beim Anhören dieser Lesungen mag sich zunächst der Eindruck des Altmodischen einstellen. Dies gesteht auch Martin G. Petrowsky, der Sohn der Dichterin und Herausgeber der CD, in dem knapp informierenden Begleitheft zu, das sämtliche Texte enthält, die Erika Mitterer liest. Folgt man aber Petrowskys Empfehlung und lässt sich von "der suggestiven Übereinstimmung von Sinn, Klang, Rhythmus und Bildern" "aus der traurigen Wirklichkeit herausführen", dann entfaltet die eher leise Leseweise der Dichterin einen sanften Zauber, der gerade dadurch wirkt, dass er zur Abwechslung einmal nicht von heute ist.