
Glaziologen haben es bekanntermaßen in erster Linie mit Schnee und Eis zu tun. Die "Gletscherkunde", wie sie ursprünglich hieß, ist ein interdisziplinäres Feld, das verschiedene Geo- und Biowissenschaften integriert. Und doch beschäftigt sich diese Wissenschaft vor allem mit einem: mit der Zeit in all ihren Ausformungen. "Es gibt kaum eine vergänglichere Materie als Schnee, aber im Eis der Gletscher ist sie aufgehoben. Denken Sie nur an den Schnee all der Jahre. Stellen Sie sich den Schnee aus den Tagen vor, in denen Cortés Mexiko erobert hat, den Schnee aus der Zeit vor Christi Geburt oder den Schnee der ersten Menschen."
Aber nicht nur die Vergangenheit, die im Eis gegenwärtig ist, interessiert diese Zunft, sondern auch und zunehmend die Zukunft: Kaum etwas ist so sehr zum Sinnbild des Klimawandels geworden wie die schwindenden Gletscher, die sich nicht nur in den Alpen dramatisch auf dem Rückzug befinden. Glaziologen gelten insofern auch als "Wächter der gefrorenen Riesen, die vom Aussterben bedroht sind".
Eisige Kindheit
Richard ist ein solcher "Wächter", und vielleicht wurden die Fundamente dafür schon in seiner Tiroler Kindheit gelegt. Denn dort wurde er als Junge mitunter zur Strafe in die Kühlanlage im Hotel der Eltern gesperrt und musste ausharren zwischen all den gefrorenen Fleischstücken, die dort hingen. "We studied to love the cold, to make a friend of it, to call it home." Diese Verse aus einem Gedicht von John Burnside wurden für Richard zu einer Art Lebensmotto: Wie ich lernte, die Kälte zu lieben und mich in ihr heimisch zu fühlen.

Allem Anschein nach ist ihm das gelungen: Er lebt wohlsituiert in Hamburg, ist mit Natascha, einer Schriftstellerin, verheiratet, hat eine Tochter namens Fanny und ist in seinem Fach ein begehrter Vortragsredner auf Kongressen weltweit. Doch Richard befindet sich auch in der Mitte des Lebens, an einem Punkt, an dem vergangenes und noch verbleibendes Leben wie sonst kaum einmal in der Gegenwart
zusammenschießen. Und an dem es vor allem um eine Frage geht: ". . . was ich weglassen könnte in meinem Leben, ohne dass mir etwas fehlte, und was es wäre, das dann noch bliebe". Und was soll noch kommen, in den Jahren, die bleiben?
"Weglassen" könnte Richard vermutlich seine Frau. Man hat sich auseinandergelebt, schlimmer noch: Richard glaubt, damals die Falsche geheiratet zu haben, Natascha, und nicht deren Zwillingsschwester Katja, zu der er sich viel stärker hingezogen fühlte. Katja ist seit Jahren tot, bei einem Unfall ums Leben gekommen, aber immerhin gibt es noch Idea Selig, eine Kollegin aus Mexiko, mit der er auf einer Reise in die USA eine lockere Affäre beginnt. Geblieben ist vor allem eine große Sehnsucht: Deutschland und Europa den Rücken zu kehren und in Kanada noch einmal neu anzufangen. St. Johns, angeblich die älteste Stadt Nordamerikas, ist für Richard zu einem imaginären "Fluchtpunkt" geworden. Nun scheint ihm die Zeit gekommen, diesen Schritt noch einmal ernsthaft zu erwägen.
Doch Norbert Gstrein wäre nicht Norbert Gstrein, spielten nicht auch weltpolitisch bedeutsame Fragen eine Rolle. In diesem Fall ist es die "Flüchtlingskrise". Sie ist es, die Richard noch ein Stück weiter von seiner Frau entfremdet. Denn während er die Sache eher distanziert betrachtet, geht Natascha in ihrer Rolle als Helferin auf. Auf ihr Drängen überlassen sie ihr Sommerhaus an einem Mecklenburgischen See einer syrischen Familie. Sie inszeniert die Familie in Presse und Fernsehen als "Gutmenschen", sie schreibt die Fluchtgeschichte von Herrn Farhi, seiner Frau und den zwei Söhnen auf, sie mischt sich ein, als Jugendliche die Familie schikanieren, und sorgt indirekt dafür, dass es am Ende zu blutiger Gewalt kommt.
Seelenverwandter
Richard misstraut Farhis Geschichte, sieht ihn andererseits aber als "Seelenverwandten", der es dorthin geschafft hat, wohin Richard noch will: nach Kanaan, ins Gelobte Land, in ein besseres Leben.
Nobert Gstreins neuer Roman kommt - auch äußerlich, nämlich vom Buchformat her - kleiner daher als die Vorgänger, er wirkt persönlicher und zugleich zurückgenommener. Vielleicht sind die Erzähl- und Motivfäden gerade deshalb noch feiner, noch vielschichtiger verwoben als sonst.
Natürlich findet sich auch hier das Spiel mit Fakten und Fiktion, mit Identität und Wahrheit, mit der Literatur als Möglichkeitswelt. Am Ende bietet er gleich zwei dreizehnte Kapitel; ob wir ganz zum Schluss tatsächlich erfahren, "was wirklich geschehen ist", muss, wie immer bei Gstrein, dahingestellt bleiben. Doch gerade die Tatsache, dass das Erzählte stets nur die halbe Wahrheit ist, macht diesen Roman zu einem eindrucksvollen Stück Literatur.