
Wer heute einen autobiografischen Roman schreibt, steht vor einem Problem, vor dem auch schon der Großmeister moderner Memorialliteratur stand: Wie schaffe ich es, die Erinnerung an die vergangene Zeit des eigenen Lebens in Gang zu setzen? Und wie kann ich mein Erinnern so in Sprache übersetzen, dass aus Wahrscheinlichkeiten des Damals nicht falsche Gewissheiten werden?
Bei Marcel Proust war es der berühmte Biss in die Madeleine, der dem Gedächtnis auf die Sprünge half, und seine "Suche nach der verlorenen Zeit" geriet nicht zuletzt deshalb so umfangreich, weil sich die Erinnerungsräume nach ihren ganz eigenen Gesetzen verzweigten.
Bei Bodo Kirchhoff sind es oft Fotos, die am Anfang der erinnernden Selbstbefragung stehen. Etwa das von seiner Mutter, das er findet, als er als Halbwüchsiger ihre Wildlederjacke trägt: "darauf seine Mutter, wie er sie noch nie gesehen hatte, im dunklen Kostüm, ein Glas Sekt in der Hand, die Lippen dicht am Glasrand, die Augen geschlossen im Moment vor dem Trinken (. . .). Es war und ist das Bild der Bilder meiner Mutter (. . .), das, wie jedes Porträt, an sich noch keine Geschichte erzählt, die liegt allein beim Betrachter. Das im Sekundenbruchteil Festgehaltene (. . .) bleibt so stumm auf dem Foto wie die Person, die nicht mehr lebt, die nichts mehr beitragen kann, und doch setzen beide Bestandteile die Sprache in Gang, das Erzählen des Betrachters, sobald er sich in der Zeit zurückbewegt, man könnte auch sagen: den Proustschen Kosmos betritt."Auch der Kosmos des Bodo Kirchhoff steckt voller sinnlicher Erfahrungen. Beispielsweise wird darin unglaublich viel geraucht - Roth-Händle, Reval, Gauloises, alles, was man sich eben so ansteckte in den 1950er und 1960er Jahren. Der titelgebende "Dämmer", das könnten auch die Rauchschwaden sein, die sich wie ein gelblicher Schleier über die Erinnerungen legen. Und der "Aufruhr" des Titels ist in erster Linie ein körperlicher: die Entdeckung der eigenen Sexualität, deren widersprüchlich funkelnden Kern ein Missbrauch zu Internatszeiten bildet. Der Kantor der Schule, mit sonorer Stimme und einem Aussehen wie Winnetou gesegnet, lockte den damals Elfjährigen auf sein Zimmer.
"Dort brennt vor dem Bett eine Kerze, als hätte die Adventszeit schon begonnen, und es riecht nach seinem Mundwasser, aber auch nach kaltem Rauch, einer Mischung aus beidem, die das Herz noch mehr schwellen lässt, alles andere als erstarren. Leg dich hin, sagt er und zeigt auf das Bett. Er schließt die Tür und kommt ans Bett, er legt mir, unter der Pyjamajacke, eine Hand auf den Bauch - der Augenblick, in dem alles Verlorensein dieser ersten ewigen Internatszeit wie in einem Kippbild plötzlich als ein horrendes Glück im Unglück erscheint."