Romain Gary hatte zeit seines Lebens viele Gesichter. Der Franzose war Schriftsteller, Jurist, Pilot, Diplomat, Provokateur - und ein Chamäleon. Seine Romane trugen die unterschiedlichsten Namen. Einer davon sorgte in den 1980er Jahren für einen Skandal in der Literaturwelt Frankreichs. Unter dem Pseudonym Emile Ajar gewann Gary 1975 den renommierten Prix Goncourt für den Roman "Du hast das Leben noch vor dir" (La vie devant soi) . An sich ein Grund zur Freude, würden die Regeln nicht besagten, dass die Lorbeeren nur einmal an einen Autor gehen dürfen. Und Gary hatte den Preis bereits 1956 für den Roman "Die Wurzeln des Himmels" (Les racines du ciel) bekommen. Allerdings erlebte der Autor den Skandal nicht mehr, er flog erst nach seinem Selbstmord 1980 auf.

"Eine wunderbare Geschichte über Freundschaft und Liebe jenseits aller Religionen und Weltanschauungen", heißt es am Buchrücken. - © Diana Verlag
"Eine wunderbare Geschichte über Freundschaft und Liebe jenseits aller Religionen und Weltanschauungen", heißt es am Buchrücken. - © Diana Verlag

In seinem zweiten preisgekrönten Roman erzählt Gary die Geschichte des jungen Moslems Momo, der bei der Jüdin Rosa, einer alten Prostituierten, im Pariser Viertel Belleville aufwächst. Wie viele andere Kinder auch wurde Momo gegen Geld in die Obhut der alten Dame überstellt. Der vierzehnjährige Momo schlägt sich durch, so gut er kann, und genießt dabei die Bildung, die er aus den Gesprächen mit der alten Madame Rosa, Nachbarn und Bekannten aus Belleville erfährt. Als Madame Rosa älter wird und sich ihr Zustand dramatisch verschlechtert, ist Momo derjenige, der ihr in ihren letzten Tagen beisteht. Von ihr erhielt er nicht nur Essen und Lebensweisheiten, sondern auch Zuwendung.

Mit Momo lässt der Autor eine Stimme sprechen, die manchmal schnippisch, oft poetisch klingt. Getränkt ist der Roman mit einem Realitätssinn, der an manchen Stellen Weisheiten zu Tage bringt wie die, dass arme Menschen die meiste Liebe brauchen; diejenigen Menschen, denen es materiell besser geht, die schaffen es meist auch allein.

In "Du hast das Leben noch vor dir"  erlebt der Leser eine Welt der Armut und des Elends. Momos Wegbegleiter sind gesellschaftliche Außenseiter: Prostituierte, Waisen, Transvestiten und MigrantInnen. Doch in Momos Augen zählt der Charakter eines Menschen und nicht die Herkunft, Religion oder Kulturen.

In Frankreich wurde der Roman nach seiner Veröffentlichung zum Bestseller. Das war zu einer Zeit, als Immigranten dort (und anderswo) kaum beachtet wurden. Und zweifelsohne schockte Gary seine Leser mit dieser Milieustudie das bürgerliche Herz. Der Roman wurde nach seinem Freitod verfilmt, mit Simone Signoret als Madame Rosa. Und auch der Film wurde ausgezeichnet, 1977 mit dem Oscar, als bester fremdsprachiger Film. Beides, Filmversion und Original, sind poetisch und berührend, aber ohne auf die Tränendrüsen zu drücken.