Wien. Migranten kommen aus allen Teilen der Welt und gehen in alle Teile der Welt. So bringt der "Word Migration Report" das globale Phänomen Migration auf den Punkt. Selten wird aber so sachlich über Migration gesprochen. Angstmache vor Menschenströmen aus dem Süden, die den Norden überlaufen würden, überwiegen.
Der "Sturm auf Europa" findet aber nur in den Köpfen der Menschen statt; und er sagt mehr über die Angst der Europäer aus als über die Wirklichkeit. Zum einen lassen sich die Ursachen und Gründe für Wanderungsbewegungen nicht über einen Kamm zu scheren, zum anderen ist Migration auch eine Geldfrage: nicht die "Ärmsten der Armen" verlassen ihre Herkunftsländer, sondern vor allem Angehörige der Mittelschicht brechen in Richtung Norden auf – denn sie können sich die Schlepperdienste überhaupt leisten. Abgesehen davon endet der "globale Marsch" nur selten in den USA oder in Europa. Die meisten Menschen wandern vor allem innerhalb der oder zwischen den Ländern der südlichen Hemisphäre: ein Drittel im Südlichen Afrika, die Hälfe in Asien. Und der Großteil der Flüchtlinge wird nicht von den reichen Industrieländern aufgenommen, sondern verbleibt in den afrikanischen und asiatischen Nachbarländern.
Politik der Abschreckung
Laut Berechnungen des UNHCR nahmen im Jahr 2002 die Staaten der Europäischen Union zum Beispiel nur knapp zwei Millionen Flüchtlinge und Asylsuchende auf, das sind 15 Prozent der weltweit Registrierten. Die meisten Flüchtlinge fanden 2002 dagegen in Pakistan, Tansania und die Demokratische Republik Kongo Zuflucht. Erst auf Rang 37 wird in dieser Statistik als erster EU-Staat Deutschland aufgelistet.
Das Lehrbuch "Internationale Migration. Flucht und Asyl" des deutschen Wissenschafters Franz Nuscheler fasst die wesentlichen Merkmale der globalen Migration zusammen. Mit Empirie entkräftet er wesentliche Vorurteile über Migration, Asyl und Integration. So zeigt er zum Beispiel, dass erst durch striktere Gesetze und einer Politik der Abschreckung die illegale Einwanderung zugenommen hat.
Geschäft mit den Flüchtlingen
Irreguläre Migration ist außerdem zu einem lukrativen Geschäft geworden. Weltweit werden jedes Jahr laut Schätzungen von Experten bis zu vier Millionen Menschen über Grenzen hinweggeschleust, die Schlepperorganisationen machen dabei einen Profit von jährlich rund sieben Milliarden US Dollar. Aber auch von den Plantagen in Spanien und Italien, den Baustellen Deutschlands, den Autobahnen Frankreichs oder den Spitälern in den USA sind die undokumentierten Zuwanderer nicht mehr wegzudenken. Wie Nuscheler zeigt, sagen westliche Regierungen der irregulären Zuwanderung durch öffentlichen Druck zwar den Kampf an, gleichzeitig aber dulden sie ebendiese - zum Wohle der betriebswirtschaftlichen Bilanzen der Unternehmen.
Und wie kann man den Problemen der irregulären Migration entgegenwirken? Vor allem durch Ursachenbekämpfung sowie friedens- und entwicklungspolitische Konzepte; damit es erst gar nicht zu diesen Problemen kommt. Voraussetzung dafür sei allerdings die weltpolitische Gesamtverantwortung aller Staaten, so das Fazit des Wissenschafters im dritten und letzten Teil des Buches. Begrenzungspolitik der Nationalstaaten hat keinen Sinn, betont Nuscheler.
"Problemstau"
Währen sich der erste und dritte Teil vor allem mit Aspekten der internationalen Migration befassen, analysiert Nuscheler im zweiten Teil die Ausländer- und Asylpolitik in Deutschland. Diese lässt sich mit "viele Gesetze, aber wenig Rechtssicherheit" zusammenfassen, ein Befund, der ebenso für Österreich gilt wie die Bezeichnung "widerwilliges Einwanderungsland". Nachdem sich dem Wissenschafter zufolge die Politik zu lange zu wenig um "Inländer mit fremden Pässen" gekümmert hat, kam es notgedrungen zu einem Problemstau, dessen Auswirkungen wir nun erleben. Und der soziale Sprengstoff durch unbewältigte Integrationsprobleme umfasst viele Lebensbereiche. Sie ist vor allem im Arbeits- und Ausbildungssektor und vor allem bei der "mitgenommenen Generation", wie Nuscheler die zweite Generation nennt, sichtbar.
Der Wissenschafter spricht die Probleme an, aber ohne Schuldzuweisungen: die Ursachen wurzeln in den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Gleichzeitig mahnt er auch zur Vorsicht bei Statistiken: diese seien "Artefakte", aus denen nicht automatisch ein Wahrheitsanspruch abzuleiten sei. So bedeutet beispielsweise Zuwanderung nicht gleich Zuwanderung, sondern meistens steckt Familienzusammenführung oder auch Saisonarbeit dahinter.
Abbildungen und Tabellen veranschaulichen seine Thesen. Eine Skizze listet diejenigen Maßnahmen auf, durch die Integration voran geht: dazu zählen allen voran Bildung und Arbeit. Voraussetzung dafür wiederum sind: Anerkennung der Qualifikation und des Berufs, Arbeitsmarkpolitik, Integrationskurse und vor allem lokale Netzwerke.
FRONTEX fehlt
Das Buch ist übersichtlich in drei Teile mit jeweils fünf Kapiteln gegliedert, sein luftiges Layout hilft, bei der Dichte an Informationen nicht den Überblick zu verlieren. Für Notizen gibt es viel Platz, außerdem fassen die Stichwörter an den Seitenrändern den Inhalt kurz und bündig zusammen.
Negativ fällt jedoch auf, dass es kein Stichwortverzeichnis gibt. Außerdem ist die zweite Auflage aus dem Jahr 2004 nicht mehr auf dem aktuellsten Stand. So fehlt eine Auseinandersetzung mit dem mittlerweile gewichtigsten Akteur der Asyl und Flüchtlingspolitik der Europäischen Union: die 2004 vom EU-Rat beschlossene FRONTEX. Und auch in der Begriffswahl hinkt das Lehrbuch dem wissenschaftlichen Stand hinter her. Zwar ist Nuscheler bei der Wahl der Bezeichnung "irreguläre Migration" sehr sorgfältig, leider übernimmt er aber unhinterfragt den mittlerweile in der Wissenschaft umstrittenen Begriff "Integration".
Gegen Angst und Angstmacherei ist mit Empirie und Vernunft nicht anzukommen. Da macht auch die sachliche Auseinandersetzung des vorliegenden Lehrbuches mit dem Thema Flucht und Asyl und der gute Überblick keine Ausnahme. Dennoch: die Lektüre lohnt sich, auch für LeserInnen fernab von Universitäten.