Wer nur von Integration etwas versteht, versteht auch von Integration nichts. In abgeänderter Form passt Hanns Eislers Aussage über das Musikverständnis bestens zur aktuellen Auseinandersetzung über "Integration". Denn diese wird im öffentlichen wie im politischen Diskurs vor allem als Frage der Kultur und Religion behandelt, soziale Aspekte bleiben dabei meistens außer Acht.

"Alles ist Kultur", betonen auch Eva Maria Bachinger und Martin Schenk in ihrem aktuellen Buch "Die Integrationslüge. Antworten in einer hysterisch geführten Auseinandersetzung" und kritisieren damit den Wandel in der Ursachenforschung von gesellschaftlichen Ungleichgewichten: aus Ungleichheit wurde Differenz und aus Gesellschaft Kultur gemacht.

Doch Kultur ist nicht statisch, sondern sie ändert sich ständig. Das Beispiel der Gabel zeigt das eindrucksvoll. Als sie im 13. Jahrhundert in Venedig auftauchte, versetzte sie den Bischofskardinal in Rage: Gott hätte den Menschen mit Fingern ausgestattet, es bedürfe daher dafür keiner weiteren Hilfsmitteln, um zu essen. Im Westen hatte die Gabel daher lange Zeit einen schweren Stand, im Osten war sie allerdings bereits seit dem 4. Jahrhundert am Hof von Byzanz in Gebrauch.

Soziale Diskriminierung

Warum wird Kultur und auch Religion in den Debatten rund um "Integration" so viel Aufmerksamkeit geschenkt? Indem der Begriff "Integration" dermaßen damit in Verbindung gebracht wird, verdrängt man den Diskurs über Menschen- und Bürgerrechte, betonten Bachinger und Schenk. Hinzu kommt, dass man durch ein Zuviel an Kultur und Religion die Menschen in ihrer Freiheit, sich gegen dieses zu stellen, einschränkt.

Der Rückgriff auf Kultur solle gesellschaftliche Probleme als etwas Natürliches erscheinen lassen; die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen, die politischen und strukturellen Zusammenhänge des gesellschaftlichen Zusammenlebens bleiben ungenannt. Soziale Diskriminierung kann auf diese Weise von Politik und Medien elegant ausgeblendet werden – damit, so könnte man hinzufügen, das soziale Dachgeschoss dort bleiben kann, wo es ist.

Probleme bestehen

Allerdings darf man Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht schönreden: Diskussionen über Zwangsverheiratung, Genitalverstümmelung, so genannte Ehrenmorde müssen genau so diskutiert werden wie zum Beispiel, Männergewalt in der Familie, fehlende Ausbildungschancen oder rechtliche Schikanen, betonten die AutorInnen gleich zu Beginn des Buches.

Ihre Thesen über die Dominanz der Kultur legen die sie anhand fünf exemplarischer Reportagen aus den Bereichen Ausbildung, Schule, Religion, Arbeitsplatz und Gesundheit dar. Diesen Beiträgen folgte eine wissenschaftliche Analyse, die löblicherweise ein sehr dezentes Maß an Fachvokabular beinhaltet. Dem Buch gelingt dadurch auch der wichtige Brückenschlag zwischen dem universitären Elfenbeinturm und der breiten Öffentlichkeit. Außerdem wird die Auseinandersetzung mit dem Thema durch die Mischung von Reportage und Analyse lebendig.

Zähe Mythen

Besonders hervorzuheben ist ihre Reportage über Jugendliche in Kreuzberg, Berlin. Ohne zu moralisieren oder aus den Burschen Opfer zu machen, versuchen die Autoren zu erklären, warum diese Jugendlichen vor allem ihre schlechten Seiten an den Tag legen. "Leute, die im Mangel aufwachsen, bekommt man nie satt", sagt dazu ein Sozialarbeiter. Und er fügt hinzu, dass dies nichts mit Ausländern zu tun habe, sondern mit der Unterschicht, in der eben vor allem MigrantInnen zu finden seien. Viele Probleme seien eine Reaktion auf die Unterdrückung und Erniedrigung aufgrund ihres Status, betont der Sozialarbeiter.

Außerdem räumen die AutorInnen mit zähen Mythen auf: zum Beispiel mit dem der Sprache als Schlüssel zur Integration. Denn wie man am Beispiel Frankreich sehen kann, genügt Sprache alleine nicht, das gesellscahftliche Teilhabe geingt. Die Kinder aus den ehemaligen Kolonien sprechen perfekt französisch, sind aber trotzdem Außenseiter und Diskriminierte. Sie sind Kinder aus Arbeiterfamilien, die sich, egal welcher Herkunft, auch als Arbeiterkinder und nicht als Menschen mit Migrationshintergrund definieren.

Dies führt gleich zum nächsten Mythos: der des rassistischen Proleten. Den Autoren zufolge ist Rassismus vor allem in der Oberschicht und Mittelschicht zu finden. Sie zeigen, dass besonders diejenigen anfällig für ausschließende Ideologien sind, die sich mit Werten wie Karriere, Geld, Erfolg identifizieren. Ihre ökonomischen Einstellungen stehen im Zusammenhang mit der Abwertung von Menschen, die diese Ideale – aus welchen Gründen auch immer - nicht erfüllen.

Diskursänderung

Das Buch weist aber auch immer wieder auf Wege aus dem Status Quo auf: vor allem eine Änderungen des Diskurses sei wichtig; das Wort "Unterschicht" müsse wieder Eingang in die Analysen über Ungleichheit und Integration finden. Und in den Schulen und der Gesellschaft müsse ein Wertewandel stattfinden: indem Vielfalt positiv bewertet, Fehler und Fremdsprachen nicht verdammt, sondern akzeptiert werden.

Das einzige Manko des klugen Werks: Literaturhinweise sind nur am Schluss jedes Kapitels in den Fußnoten zu finden, eine zusammenfassende Literaturliste wäre am Ende des Buches ebenso gut gewesen wie ein Stichwortverzeichnis. Diese hätten anstelle der hin und wieder vorkommenden inhaltlichen Wiederholungen in den analytischen Abschnitten auch leicht Platz gefunden. Es bleibt zu hoffen, dass diese zusätzlichen Seiten in einer zweiten Auflage Ergänzung finden werden.