Was haben der Windischgarstner Niglo-Umzug und die Reitkunst der Spanischen Hofreitschule gemeinsam? Auf den ersten Blick eint sie vielleicht ein Hauch von Exotik. Aber spätestens bei der Stichwortsuche in einer Suchmaschine sieht man: Beide zählen zum UNESCO-Kulturerbe, genauer gesagt zum immateriellen Kulturerbe. Demnach zeichnet beide aus, dass sie gemäß der Definition über die Erhaltung der traditionellen Kultur und der Volkskultur "Quelle kultureller Vielfalt" und "Garant für nachhaltige Entwicklung" sind. Und sie eint, dass sie erst nach einem offiziellen Antrag Aufnahme in diese Liste fanden (wie weitere 50 österreichische Traditionen auch).
Doch was ist mit all den anderen Traditionen dieser Welt, die nicht Eingang in die Liste finden? Sind sie weniger lebendig und identitätsstiftend als der Niglo oder die weißen Pferdchen? Das Beispiel zeigt gut, dass es bei der Auseinandersetzung mit Traditionen nicht nur um Relevanz von Mythen, Erinnerungen und Identitäten geht, sondern damit verbunden vor allem um die Macht der Definition, wer das Sagen hat, was Tradition ist und was nicht, zum Beispiel.
Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes (pdf-Datei)
Um dieses Thema dreht sich das aktuelle im Promedia Verlag erschienene Buch "Tradition und Traditionalismus. Zur Instrumentalisierung eines Identitätskonzept". Insgesamt widmen sich in dem von den beiden Wissenschaftern Hermann Mückler und Gerald Faschingeder herausgegebenen Sammelband zwölf Fachfrauen- und männer in 13 Länder- und thematischen Fallstudien den Charakteristika und Funktionsweisen von Tradition, Identität und deren Instrumentalisierung. Ebenso behandelt wird Traditionen als Exotik, die zur Folklore verkommt.
Die Theorien der beiden Historiker Eric Hobsbawm und Terence Ranger und des Soziologen Benedict Anderson durchziehen als Roter Faden die Beiträge, allen voran deren Erkenntnisse über erfundene Traditionen (Hobsbawm/Ranger) und vorgestellte Gemeinschaften (Anderson). Dabei werden auch die Funktionen von Traditionen in den globalen Gesellschaften hinterfragt und bewertet. Vor allem aber bringt der Sammelband Schwung in eine in Österreich dringend notwendige Auseinandersetzung um Tradition und Traditionalismus, um Mythen der Vergangenheit und Gegenwart und damit auch Zukunft. Ein Schwung, von dem man hoffen darf, dass er nicht auf einer rein akademischen Ebene stehen bleibt.
An Hand des Andreas Hofer-Mythos setzt sich beispielsweise Andreas Oberhofer mit historischen und gegenwärtigen Tirol-Klischees auseinander. Dabei werden einerseits allgegenwärtige Mythen rund um den Bauernhelden dekonstruiert, andererseits politische und historische Instrumentalisierungen nachgezeichnet. Das Panorama Tirol, das am 12. März 2011 seine Pforten am Berg Isel öffnete und von offizieller Seite als Museum für den Mythos Tirol hofiert, ist nur einer der Auswüchse von instrumentalisierten Traditionen.
Auf den kleinsten Nenner gebracht kann man sagen: als authentische Tradition wird das kulturelle Erbe verstanden, das von einer Generation zur Nächsten weitergeben wird. Dazu gehören Sprache, wissenschaftliches Wissen und handwerkliches Können ebenso wie Moral, Essensregeln, Rituale bei Hochzeiten oder Begräbnissen zum Beispiel. Dabei ist vor allem der Unterschied zwischen Traditionen und Traditionalismus wichtig: erstere sind zwar widersprüchlich, werden aber per definitionem gelebt, letzterer sind vor allem politisch motiviert und Resultat eines Missbrauchs, einer Instrumentalisierung. Die Grenze allerdings, was nun authentische Tradition ist und was nicht, ist schwer zu ziehen.
Was ist authentisch?
Wo authentisch traditionelle Kunst beginnt und aufhört, ja ob sie überhaupt möglich ist, ist Inhalt des Beitrags von Gabriele Weichart über indigene Kunst in Australien, wo Kunstwerke schon lange nicht mehr wegen ihres Gebrauchswertes, sondern vor allem wegen ihres Tauschwertes produziert werden: weniger Ritual denn Ware ist die Triebfeder der Kunstproduktion dort, was zugleich die Frage schürt, ob der begriff Authentizität dafür noch verwendet werden darf.
Nikolaj Grilc wiederum zeichnet in seinem Beitrag die vielfältigen Arten und Weisen der nostalgischen Verklärung Jugoslawiens nach, Hermann Mückler illustriert die Bedeutung der Keule als identitätsstiftendes Objekt in Ozeanien und Eric Pfeifer verknüpft Tradition mit Kolonialismus und Nationalismus und zeigt, inwieweit zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland erstere als Machtlegitimation dienten. Der Sammelband nimmt sich aber auch Beispielen der Gegenwart an, indem er die aktuellen nationalistischen Umtriebe in Ungarn Bezug nimmt.
Was die interdisziplinären Studien dieses Bandes eint ist ferner der Fokus auf das Lokale. Globale, sozio-ökonomische Ursachen werden hingegen kaum thematisiert - ein Schwachpunkt, der jedoch auch im methodischen Zeitgeist zu verorten ist, hat sich doch durch den cultural turn in den Geisteswissenschaften der Fokus der Analysen verschoben: so werden im Unterschied zu den 1970er und 1980er Jahren heute seltener die Triebfedern, die Ursachen von gesellschaftlichen Entwicklungen analysiert als vielmehr deren Auswirkungen seziert.
Wo ist Afrika?
Diese Lücke wird leider ergänzt um eine weitere: es fehlt ein Beitrag über traditionelle Musik. Zwar findet das Thema Musik durch Marie-France Chevrons Beitrag über Traditionalisierungen im Alltag Eingang in das Buch, allerdings beschäftigt sich ihr Beitrag mit der Transformation von Subkultur zum Medium des Konsums.
Davon abgesehen vermisst man in dem aktuellen Sammelband auch eine breite thematische Auseinandersetzung mit Tradition und Identität an zumindest einem Beispiel aus Afrika. Dem Leser, der Leserin bleiben dadurch leider auch wichtige Weiterentwicklungen und Ergänzungen zu Andersons, Hobsbawms und Rangers Theorien vorenthalten. Stellvertretend sei hier zum Beispiel John Lonsdales Theorie der moralischen Ethnizität genannt, der die Debatten um Traditionen und Identitäten von Instrumentalisierung befreit und sie als nie abgeschossene Diskurse vor allem vor dem Hintergrund von sozioökonomischen Änderungen sieht.
Trotz dieser Schwächen ist den Herausgebern ein gutes, umfangreiches und kritisches Buch zum komplexen Thema "Traditionen und Traditionalismus" gelungen. An ihrem Buch sollte niemand vorbei, der sich mit den einer jeder Nation inhärenten Mythen, der Hinterfragung von Tradition und den Auswüchsen von Traditionalismus beschäftigt oder einen fundierten Einstieg in dieses Thema sucht. Und es punktet vor allem auch damit, dass seine AutorInnen nicht davor zurückscheuen, den Blick auch auf das Eigene zu richten.