Ist in der Gesellschaft von Nerds die Rede, hat man schnell Bilder im Kopf: die Physiker im Batman-Shirt auf der Couch von "The Big Bang Theory" oder die Geschichte von Steve Jobs, der die ersten Apple-Computer in der Garage seiner Pflegeeltern baute. Letzteres ein wohl verklärtes, aber nicht zuletzt reales Bild, Ersteres eine Erfindung von Comedy-Autoren. Aber wo Rauch ist, ist bekanntlich auch Feuer - und jeder kennt das Klischee des irgendwo sozial unangepassten aber dafür hilfsbereiten Computerfreaks, der zum anderen Geschlecht stets dann Kontakt hat, wenn jemand das neue WLAN einrichten sollen.

Aber was ist wirklich dran an der Figur des Nerd? Kulturwissenschafterin Annekathrin Kohout zeichnet in ihrem neuen Buch "Nerds. Eine Popkulturgeschichte" (C. H. Beck) eine viel facettenreichere Geschichte: Sie führt vom spießigen Streber über den genialen Computerfreak bis hin zum Alten Weißen Mann, sozusagen der Ruhestand der Figur des Nerds.

Annekathrin Kohout ist Kulturwissenschaftlerin, Bloggerin ( sofrischsogut.com ) und Redakteurin der Zeitschrift Pop. Kultur und Kritik. Von ihr erschien zuletzt das Buch "Netzfeminismus" (2019). - © Robert Hamacher
Annekathrin Kohout ist Kulturwissenschaftlerin, Bloggerin ( sofrischsogut.com ) und Redakteurin der Zeitschrift Pop. Kultur und Kritik. Von ihr erschien zuletzt das Buch "Netzfeminismus" (2019). - © Robert Hamacher

Der Nerd, er hat eine mittlerweile mehr als 40 Jahre lange Geschichte. Als das Informationszeitalter in den 1980er Jahren in seinen Anfängen steckte, galten Nerds als misanthropische Freaks und kauzige Streber. Während sie ihre Freizeit im heimischen Keller an komplizierte Geräte vergeudeten und sich von Tiefkühlpizza ernährten, genossen die High-School-Schönlinge ihre gesellschaftlichen Privilegien in vollen Zügen. Doch der Erfolg neuer Informationstechnologien läutete einen ungeahnten Siegeszug der Nerdfigur ein. Nerds, damit verbanden sich Namen wie Bill Gates und Steve Jobs. Aus den einstigen Außenseitern wurden charismatische Insider: Nerdig wurde das neue cool. Doch seit den 1990er Jahren wird die männliche, weiße, privilegierte Nerdfigur hinterfragt und politisiert. Gerät der smarte Silicon-Valley-Nerd im Licht dieser neuen Diskurse zum Alten Weißen Mann? Ist die große Zeit dieser für ein paar Jahrzehnte so wichtigen Sozialfigur schon wieder vorbei? In ihrem Buch zeigt die Kulturwissenschaftlerin und Bloggerin Kohout die wechselvolle Geschichte des Nerds, die zugleich eine Geschichte der Populärkultur und der Informationsgesellschaft ist. Die "Wiener Zeitung" sprach mit der Autorin über die Ihrer Meinung nach wichtigste Figur des 20. Jahrhunderts.

"Wiener Zeitung": Von welchem Begriff sprechen wir, wenn wir vom Nerd sprechen?

Annekathrin Kohout. Ich glaube, zunächst gibt es das Stereotyp: Der junge Mann mit Hornbrille und Holzfällerhemd, der im Leben ein bisschen dusselig ist, eine ganz bestimmte Leidenschaft hat, aber auf der anderen Seite in einem bestimmten Bereich hochbegabt ist. Ich habe mich eher damit beschäftigt, wie sich der Nerd mittlerweile von diesem Stereotyp gelöst hat. Deswegen spreche ich auch von der Sozialfigur. Die existiert nicht mehr nur innerhalb von Filmen und Serien, sondern in allen Bereichen der Gesellschaft. Irgendwann in den 1980er Jahren hat man angefangen, die großen Computerpioniere als Computernerds zu bezeichnen. Da hat sich zum ersten Mal das Stereotyp verändert. Am Anfang war das sehr stark mit negativen Aspekten und Kritik verbunden. Das hat sich jedoch sehr stark verändert, was sicher auch mit dem Sinken der Technikskepsis an sich zu tun hat. In dem Moment, wo jeder einen Computer zu Hause hat, geht das ja auch gar nicht anders. Hier hat auch der Nerd die positive Wandlung erlebt.

Wann ist man heute, nach dieser Transformation, noch ein Nerd?

Der Nerd als Figur hat eine gewisse Ausbreitung erfahren, Man kann auch sagen, der Nerd ist an seinem absoluten Zenit. Heute kann man fast alles Nerd nennen. Es gibt Fitnessstudios, die nennen sich selbst "Sport-Nerds". Dabei ist das ja eigentlich ein Widerspruch in sich, weil der klassische Nerd eher kein Sportler ist. Die Figur ist enorm wichtig geworden. Wir haben immer mehr das Bedürfnis, uns damit zu identifizieren. Was aber immer gleich bleibt, ist diese eine ganz bestimmte Begabung. Daher überlege ich am Ende des Buchs auch, wie lange wird die Figur noch Bestand haben. Sie muss so viele Aspekte transportieren, da fragt man sich, wie das noch geht.

Was hat Sie persönlich motiviert, sich den Nerds zu widmen? Wo sehen Sie sich auf der Nerd-Skala?

In dem Moment, wo man sagt, jeder ist heute ein Nerd, dann natürlich auch ich. Meine Motivation ist, dass ich den Nerd für die wichtigste Figur des 20. Jahrhunderts halte: Er hat uns ins Informationszeitalter begleitet. Die Figur erinnert mich an den Begriff des "Genie" aus der Romantik. Was der Gelehrte für das klassische Bildungsbürgertum ist, ist der Nerd für den Bereich des High-Tech und der Popkultur. Das hat mich motiviert. Mir würde keine Figur einfallen, die ähnlich wichtig ist.

Das klingt ja fast nach einer gewissen Ehrenrettung des Nerds.

Das mache ich eigentlich nicht. Es ist ja eine sympathische Figur. Aber ein großer Teil des Buches beschäftigt sich auch an der Kritik am Nerd. Er ist schließlich eine Figur, die immer noch stark am Weißen Mann orientiert ist. In bestimmten Bereichen, die mit dem Nerd assoziiert werden, spielen Frauen eine untergeordnete Rolle. Das ist etwas, wo der Nerd an seine Grenzen gelangt. Man sieht ja auch, dass sich in den letzten Jahren Personengruppen damit identifizieren, die ein problematisches Frauenbild haben. Da bin ich mir nicht ganz sicher, ob der Nerd das unbeschadet übersteht.

Hat sich das Bild der wenigen Frauen in Technikstudien nicht längst überholt? Das ist doch heute ein ganz anders Bild als in den Neunzigern. Wie viel Klischee steckt da drin?

Von außen betrachtet hat sich die Figur tatsächlich überholt. Aber von innen betrachtet spielt es schon eine Rolle. Daher spreche ich auch vom Zenit, an dem der Nerd steht.