Roxy ist die uneheliche Tochter eines unverschämt reichen Londoner Gangsters. Zur Hochzeit eines seiner Söhne ist sie auch eingeladen. Dort fragt sie ihn, ob sie nicht endlich einen Job in seinem "Unternehmen" haben kann. Der Vater meint, sie sei als Frau zu emotional, seine Söhne würden das besser können, so wie er. Kurz zuvor sah man diesen Mann mit dem ach so kühlen Kopf eine Hochzeitstorte zerstören, weil sie nicht die richtige Farbe hatte. Bei seiner Tischrede erwähnt er dann seine tollen Söhne und dass er durch diese Hochzeit nun endlich auch eine "wunderschöne Tochter" habe. Nach dieser öffentlichen Demütigung spürt Roxy es zum ersten Mal: das Britzeln.
Ziemlich gleichzeitig, an einem anderen Ort der Erde, spürt auch Ally erstmals diese elektrischen Funken, die aus ihren Fingern kommen. Sie hört dazu auch eine (weibliche) Stimme, die ihr Mut und Widerständigkeit einflüstert. Und den Slogan: "Eine bessere Zukunft liegt in deinen Händen." Dass das tatsächlich ganz wörtlich gemeint ist, zeigt sich, als Allys Pflegevater sie als Züchtigungsmethode wieder einmal vergewaltigen will. Mit den elektrischen Stößen, die sie mit ihren Händen produzieren kann, tötet sie ihn.
Gedankenexperiment
Das sind nur zwei der Frauen, die im Mittelpunkt der Serie "The Power" auf Amazon Prime stehen. Sie basiert auf dem Roman "Die Gabe" von Naomi Alderman aus dem Jahr 2017, der von einer Welt erzählt, in der Frauen den "Strang" entwickeln, ein neues Organ, das Elektrizität erzeugt, die Männern Schmerzen zufügen kann. Oder sie umbringen. Es ist ein Gedankenexperiment, in dem sich Machtverhältnisse auf brutale Weise umkehren. Seit Jahr und Tag müssen Frauen die Gewalt von Männern fürchten, ob nun in tatsächlich physischer Form, wie bei Ally, oder wie in Roxys Fall, in anderen Ausformungen. Davon kann etwa auch die Bürgermeisterin, in der Serie von Toni Collette dargestellt, ein Lied singen: Sie wird zum Gouverneur "einbestellt", nur damit der ihr sagen kann, sie soll sich doch nicht "in ihr Höschen machen".
Die neue Funken schlagende Unberechenbarkeit verleiht dem "schwachen Geschlecht" also Stärke und damit ungekannte Macht: Nicht Frauen müssen mehr Männer fürchten, sondern Männer Frauen. Und diese Kraft wird auch ausgiebig dafür eingesetzt, um Rache für Unrecht zu nehmen. Wenn etwa ein elektrischer Mob durch einen indischen Markt zieht, der früher zu gefährlich für Frauen war. Oder wenn Sexsklavinnen ihre Unterdrücker umbringen.
Amazon Prime hat das Buch als Serie mit neun Folgen verfilmt, drei davon sind bereits online. Die von einem Weltteil in den anderen - von Großbritannien in die USA nach Nigeria und Moldau - springende Handlung eignet sich auch zu gut für eine solche Adaption. In den ersten Folgen gelingt es durchaus spannend, die verschiedenen Frauenschicksale vorzustellen. Der Roman entwickelt sich später zu einer Dystopie, die einer brutalen Matriarchats-Diktatur gipfelt, in der männliche Föten abgetrieben werden. Die mächtigen Frauen machen nichts anders als die mächtigen Männer, sie treiben deren Grausamkeit sogar noch weiter. Ob Amazon es wagt, diese verstörende Message auch zu übernehmen, kann man noch nicht sagen. Eine Empfehlung ist "The Power" allemal. Allein schon, weil man an ihr merkt, wie rar eine TV-Produktion mit so vielen tragenden Frauenrollen ist.