Hauptsache niedlich. Kindlich lächeln, großer Lollipop, klein machen. Weiterscrollen. Große Augen, Schnute ziehen, Oversized-Pullover. "Mir ist so kalt!" Weiterscrollen. Irgendwas mit kleinen Kätzchen, Pastellfarben, Baby-Stimme. "Kannst du mir das aufmachen? Ich schaff es nicht." Weiterscrollen.

TikTok kann ein seltsamer Ort sein. Dort sammelt sich alles, was man im Alltag normalerweise wegignorieren kann, multipliziert sich miteinander und wird laut. Dort zeigen sich gesellschaftliche Phänomene als erstes, am nüchternsten. Dort spiegelt sich unsere Welt ganz unbarmherzig, sodass man sich kaum mehr vor ihr verstecken kann. Und momentan gibt es da eine Sache, die besonders eigenartig ist: Warum haben online so viele Frauen ein zu großes Sweatshirt an? Warum hängt es ihnen bei jedem Videoclip über die Finger? Warum sprechen sie wie Kleinkinder? Und warum tragen auf einmal alle Schuluniform-Röcke, obwohl sie Mitte 20 sind?

Kapitel 1:
Die Gesellschaft

Man könnte es sich jetzt leicht machen und einfach Ariana Grande die Schuld geben. Die amerikanische Musikerin hat schließlich einen Großteil ihres Schaffens auf einem zu großen Pullover und ihrem langen, hoch sitzenden Pferdeschwanz aufgebaut. Aber so mächtig Ariana Grande in der Popkultur auch sein mag, die Wurzel allen Übels findet man einmal mehr in diesem mystischen Ding, das wir Gesellschaft nennen. Stichwort Jugendwahn. Oscar Wilde schreibt in "Dorian Gray": "Die Menge der Feldblumen welkt, aber sie blühen wieder. Die Blüten der Bohne sind ebenso goldgelb im nächsten Juni wie heute (...) Aber uns kehrt niemals die Jugend zurück." Es gilt also, sich selbst möglichst lange jung zu halten, dass "welken" hinauszuzögern. "In Würde altern" lässt sich zwar nach außen wunderbar predigen, hinter verschlossenen Türen dominieren aber gemeinhin Verjüngungskuren und Schönheitsoperationen. Besonders bei Frauen; die behandelt die Gesellschaft im Alter ja auch erstaunlich bösartig. Die israelische Soziologin Eva Illouz forschte in den letzten Jahrzehnten zur Entwicklung von Gefühlen, besonders der Liebe, im Kapitalismus und stellte fest, dass sich jene Mechanismen der neoliberalen Marktlogik aneignen. Wir betrachten uns gegenseitig vermehrt als Konsumentinnen und Konsumenten, werden austauschbarer. Im Patriarchat heißt das: möglichst lange begehrenswert bleiben, "hot" sein, jung aussehen.

Kapitel 2:
Das Patriarchat

"Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es", schreibt Simone de Beauvoir. Man erzieht uns die Geschlechterdiskriminierung an - es gibt keine biologisch begründete Gehaltsschere, sie entsteht aus einer sexistischen Sozialisation. Über Jahrhunderte wurde ein System errichtet, das Patriarchat, das uns Sexismus über Kultur und Gesellschaft ankonditioniert. Die Infantilisierung von Frauen spiegelt das wider, man hängt ihnen, vor allem medial, kindliche Attribute an, inszeniert sie damit als schwach und verletzlich, gibt zu verstehen: Es braucht eine Art männliche Vormundschaft, jemanden erwachsenen. Das verstärkt das Bild der Unterordnung und Unterwürfigkeit. Die Objektifizierung bleibt dabei stets aufrecht, egal ob jung oder alt. Erwachsene Frauen werden verkindlicht, junge Mädchen im Gleichschritt sexualisiert. Eine Studie stellte 1995 fest, dass Merkmale eines "attraktiven" weiblichen Gesichts einem Kindergesicht ähneln: große Augen, kleine Nase, kleines Kinn. Teilnehmende einer anderen Studie hatten ein paar Jahre zuvor das "ideale" Gesicht einer Frau von einem Computerprogramm erstellen lassen. Das Ergebnis hatte die Maße eines 14-jährigen Mädchens. Charakteristiken von erwachsenen Frauen werden in unserer Gesellschaft dagegen tendenziell eher herabgewürdigt, siehe Haare an Beinen, unter den Achseln, Gott behüte im Gesicht.

Kapitel 3:
Das Internet

Zurück zum Anfang, zu der Sache mit "Hauptsache niedlich". Die Infantilisierung von Frauen lässt sich auf der Videoplattform TikTok außerordentlich gut beobachten. Dort gibt es ganze Filterpaletten, die die Augen und Lippen vergrößern, die Nase kleiner machen, Falten wegretuschieren. Es ist ein bisschen wie ein künstliches Kindchenschema für Menschen, die man eigentlich nicht mehr nach dem Ausweis fragen muss, wenn sie Zigaretten kaufen wollen. Noch auffallender sind die Videos, in denen Frauen Babystimmen nachsprechen, meistens ein trotziges Kleinkind, das nicht ins Bett will oder nach Süßigkeiten bettelt. Ihre Partner spielen dabei immer den Erwachsenen, irgendwie einen Elternteil. Oft tragen sie einen "Onesie" aus buntem Fleece, eine Art Strampler, mit Tiermotiven, die Haare zu zwei Pferdeschwänzen hochgesteckt. In der Hand halten sie Kuscheltiere oder Lollipops, theatralische Mimik, übertriebe Gesichtsausdrücke. Es soll süß sein, "cute" - und, so viel kann man verraten, das ist es nicht. Es ist vor allem unangenehm.

Wann dieses Phänomen genau begonnen hat, kann man heute nicht mehr sagen. Seinen Höhepunkt erreichte es aber mit einem Video der philippinisch-US-amerikanischen Influencerin Bella Poarch im Jahr 2020. Es hält noch immer die meisten Likes der Plattform, fast 62 Millionen, angeschaut wurde es schon über 750 Millionen Mal. Poarch lip-synced darauf, sie bewegt ihre Lippen synchron zum Song "M to the B" von Musikerin Millie B. Das macht man auf TikTok, so weit, so normal. Poarch schminkt sich allerdings ihre Backen röter, sogar ihre Nase, als hätte sie einen leichten Schnupfen. Die Augen reißt sie extra groß auf, bewegt sich wie eine Kinder-Cartoon-Figur, exaltiert kindlich. Poarch ist mittlerweile 26 Jahre alt. Auf ihr ursprüngliches Video folgten viele weitere. In ihnen unterstrich sie ihr infantiles Auftreten mit großen Kuscheltieren, flauschigen, pinken Kostümen. Und polarisierte damit. 2021 erschien dann ihre Debütsingle "Build a Bitch", über die Zeit entfernt sie sich von ihrer ursprünglichen Rolle, wird härter, strenger. Man könnte sagen: erwachsener.

Und nun? Durch die Infantilisierung von erwachsenen Frauen, ob sie jene nun selbst verantworten oder nicht, absichtlich oder unabsichtlich, stärkt man die patriarchale Erzählung einer geschlechtlichen Unterordnung. Sie führt dazu, dass kindliche Eigenschaften, kindliche Aktivitäten, sexualisiert werden; und Frauen weiterhin verkindlicht. "Das Recht des Blickes, des Einblickes, ist ein Recht des Mannes. Die Frau hat nur das Recht des Sichzeigens, in Peepshows oder beim Film", schrieb schon Elfriede Jelinek.