Ring ins Ungewisse: Folgt hier eine pragmatische Partnerschaft oder die Katastrophe Zweisamkeit? - © SuperStock/Corbis
Ring ins Ungewisse: Folgt hier eine pragmatische Partnerschaft oder die Katastrophe Zweisamkeit? - © SuperStock/Corbis

"Der Appetit kommt bei der Schüssel", sagte einst ein kluger Mann im Herzen Oberösterreichs. Mit dieser anschaulichen kulinarischen Metapher beschrieb er die ausbaufähige Anziehungskraft zwischen seiner Angetrauten und sich selbst. Man kann ahnen: Es hat sich um keine Liebesheirat gehandelt. Doch das war nach dem Krieg, damals waren Vernunftehen aus wirtschaftlichen Gründen auch hierzulande keine Seltenheit. Nichts, was andere sonderlich abwegig fanden.

Heute ist das anders. Das zeigen die Reaktionen auf eine neue Dokusoap, die Sat1 sonntags zeigt. Sie heißt "Hochzeit auf den ersten Blick". Da gehen zwei Wildfremde den Bund der Ehe ein, sie sehen sich zum ersten Mal am Standesamt, haben also statt eines Blind Dates eine Blind Wedding. "Das ist doch abartig, ich frag mich wirklich, was mit der Menschheit los ist", fragte da etwa ein aufgebrachter Seher auf Facebook. Ein Leser urteilte im Forum von "Spiegel online" knapp: "Mit dieser Sendung hat die Perversion neue Höhen, wenn nicht sogar den Gipfel, erreicht."

Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, bedenkt man, dass es in anderen Orten dieser Erde durchaus noch vorkommt, dass nicht nur Wildfremde miteinander verheiratet werden, sondern dass darunter auch manchmal Kinder sind. Aber doch scheint diese Extrem-Datingshow einen Nerv zu treffen im an sich eh schon sehr lethargischen, jeden Unfug über sich ergehen lassenden Reality-Fernsehvolk. Wenn man sich schon alles wegnehmen lässt - Intellekt, Würde, Kleidung -, auf die Romantik in der Liebe will man nun aber echt nicht verzichten.

Lila Erotik


Dabei ist diese Show nur eine weitere Entwicklung der Denk-Spielart eines Lebensmodells, die seit einigen Jahren durch den Ratgeber-Buchmarkt irrlichtert. Bereits vor vier Jahren veröffentlichte der Psychotherapeut Arnold Retzer das Buch "Lob der Vernunftehe". Darin plädierte er für "mehr Realismus in der Liebe". Seiner Meinung nach sind Ehen, die auf "etwas so Nebensächliches wie das Glück" setzen, zum Scheitern verurteilt. Sein Rat ist simpel: Die Ansprüche müssen runtergeschraubt werden. Ein pragmatischerer Zugang ist gefragt.

Rational ist auch die Herangehensweise bei "Hochzeit auf den ersten Blick". Denn die Frau und der Mann, die da heiraten, kennen zwar einander nicht. Aber andere Menschen haben sie zuvor sehr genau kennengelernt: eine Psychotherapeutin (steirisch), ein Theologe (evangelisch) und ein Wohnpsychologe (!). Sie alle machen Tests mit den Kandidaten und filtern diejenigen aus den Trau-Willigen heraus, die laut diesen Tests am besten zusammenpassen. Das hat auch Realsatire-Charakter, wenn der Wohnpsychologe ein paar bunte Stofffetzerl auf den Tisch legt: Falls beide dieselbe Farbe auswählen, am besten Dunkellila, dann geht es seiner Analyse nach erotisch rund.

Das ist natürlich schon sehr weit weg von einer Vernunftehe, wie sie der leidgeprüfte Ibsen-Leser kennt. Deswegen wird die Doku-Soap auch als "wissenschaftliches Experiment" verkauft. Im Grunde wird hier etwas auf die Spitze getrieben, was heutzutage für viele zum Partnersuche-Alltag gehört. Auf den Datingplattformen im Internet muss man auch einen "psychologischen Test" absolvieren, der den Ausschlag gibt, wie viele "Matchingpunkte" man mit anderen Flirtanwärtern hat. Je mehr Punkte, desto mehr Erfolgschancen für die "Liebe" - sagt das Geschäftsmodell. Abgefragt wird bei so einem Test auch "Schlafen Sie bei offenem oder geschlossenem Fenster?" Womit wir wieder bei der Pragmatik wären.

Paartherapeuten rühmen in aller rührenden Banalität die geringe Erwartungshaltung von arrangierten Ehen. Die hat naturgemäß zur Folge, dass die Enttäuschungen nicht so dramatisch ausfallen. Sprich: Wer sich das Schlimmste vorstellt, wird schon froh sein, wenn der Gatte doch kein Axtmörder ist. Oder schnarcht.

Verzweifelte Vermittlungslage


Vergangenen Sonntag hat also das erste Paar in der Soap geheiratet. Diesen Sonntag kann man es beim ernüchternden Flittern beobachten. Nach sechs Wochen sagen die Eheleute, ob sie zusammenbleiben oder sich scheiden lassen. Es ist ein bisschen wie bei "Herzblatt": Da musste man Rudi Carrell auch nach dem Flug mit dem "Herzblatt"-Hubschrauber beichten, wie schlimm auf einer Skala von eins bis zehn die Katastrophe Zweisamkeit mit dem Kerl von hinter der Schiebetür war.

In den USA ist die Blind-Wedding-Show bereits gelaufen, da blieben von drei Paaren zwei verheiratet. Weniger gut die Erfolgsquote in Dänemark: Da ließen sich alle Paare scheiden. So weit ist es noch nicht gekommen bei Susanne Wendel und Frank-Thomas Heidrich. Die beiden haben heuer ein Buch veröffentlicht über ihre Vernunftehe. Die war weniger der Pragmatik als schlicht der Verzweiflung ob der Vermittlungslage geschuldet. Wendel hatte zwar viele Beziehungen und noch mehr Bettgeschichten, aber der sogenannte "Richtige" war nicht dabei. Heidrich hingegen hatte fast gar keine Beziehungen. Beide wollten sie aber dasselbe: eine stabile Partnerschaft mit alsbaldiger Familiengründung. Bei einem gemeinsam besuchten Persönlichkeitsseminar klagte Wendel ihr Leid, der Coach sagte: "Na, dann verlob dich doch nächsten Freitag mit irgendjemandem." Heidrich stellte sich freiwillig zur Verfügung, zog am nächsten Tag bei Wendel ein, ein paar Tage danach wurde Verlobung gefeiert. Bald kam ein Kind, im Lauf von zweieinhalb Jahren entwickelte sich partnerschaftliche Liebe.