Russland kommt in den Medien schlecht weg. Was vor allem an Wladimir Putin liegt. Aber was ist mit den Russen selbst? Wie sind sie gestrickt? Und was denken Sie über ihre Heimat und ihren Patriarchen? Um das herauszufinden, hat sich der erprobte Couchsurfer Stephan Orth bei ihnen zu Hause aufs Sofa gebettet und viele wahrhafte Erkenntnisse gewonnen. Einige schildert er im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
"Wiener Zeitung": Wie schläft es sich auf einer fremden Couch?
Stephan Orth: Das ist jedes Mal anders, und nicht immer ist ein Sofa im Angebot: Ich habe schon ohne Unterlage auf dem Parkettboden geschlafen und in einem King-Size-Bett im Gästezimmer mit Meerblick. Normalerweise liegt der Komfort irgendwo dazwischen. Mein Rücken fängt normalerweise nach spätestens zwei Wochen unterwegs an, sich zu beschweren. Klar sind solche Reisen anstrengend - aber die menschlichen Begegnungen machen alle Strapazen wett.
Wie unerschrocken muss man sein, aufs Geratewohl in den Iran zu fahren, oder nach Russland, ohne zu wissen, wo der Tag enden wird?
Ich finde Begriffe wie "unerschrocken" oder "mutig" nicht treffend. Ich habe viel Reiseerfahrung und versuche, in keine Situationen zu geraten, die ernsthaft gefährlich sind. Vielleicht kann man das mit einem trainierten Skispringer vergleichen: Seine Tätigkeit ist aus der Sicht von jemandem, der nur Langlauf beherrscht, absolut verwegen und gefährlich. Für ihn selber ist es Alltag und das Risiko kalkulierbar. Auf Reisen mit anderen merke ich manchmal schon, dass ich eine andere Definition davon habe, was ein "Problem" ist, für das es lohnenswert ist, sich Sorgen zu machen.
Zu Ihrer letzten Reise: Bekanntlich hat Angela Merkels Aussage "Putin lebt in einer anderen Welt" vom März 2014 bei Ihnen etwas ausgelöst. Wie sehen sie das jetzt?
Ich dachte nach über 60 bereisten Ländern, eine "andere Welt" war bislang noch nicht dabei, dies könnte also spannend werden. Unterwegs traf ich tatsächlich einige Russen, die eine andere Realitätswahrnehmung haben - weil sie alle ihre Informationen über die Welt aus staatsfinanzierten Fernsehprogrammen beziehen und noch nie ihr Land verlassen haben. Die vermuten dann beispielsweise, dass Europa quasi komplett in Trümmern liegt, oder dass die Nato bald mit einem Angriffsschlag den Dritten Weltkrieg beginnt.
Jedenfalls wurden Sie "fast zum Putin-Versteher". Sind Sie eigentlich ein politischer Mensch?
Absolut. Ich finde Reisebücher sterbenslangweilig, wenn sie nicht auch politische oder soziale Themen berühren. Am Ende steht oft die Erkenntnis: Egal, was für Deppen ein Land regieren, die ganz normalen Menschen sind einander weltweit viel ähnlicher als gedacht. Überall die gleichen Träume und Ambitionen, der Wunsch nach Freiheit und Frieden. Leider wissen die Mächtigen gut, wie sie ihr Volk darin manipulieren können, was sie als Hindernisse dieser Wünsche wahrnehmen.
Sie haben viel in die Menschen reingehört. Wie lautet Ihre Conclusio: Was macht das Phänomen Putin aus?
Oft wird aus hiesiger Sicht vergessen, welch eine traumatische Zeit die "wilden" Neunzigerjahre in Russland waren. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war das Land am Boden. Eben noch Weltmacht Nummer zwei, nun ein Chaosland, in dem einzelne schlitzohrige Geschäftsleute absurd reich und Korruption und Armut immer schlimmer wurden. Anfangs setzten viele Russen große Hoffnungen auf Europa und den Westen, wurden aber enttäuscht - es kam wenig selbstlose Unterstützung, dafür kamen die Nato-Truppen immer näher an die russische Grenze. Putin brachte ab seiner Wahl im Jahr 2000 wieder ein bisschen Ordnung in das Land, präsentierte sich als starker Mann und bot dem Westen Paroli. Für viele Russen war er dadurch jemand, der ihnen nach einer Zeit der Demütigungen den Stolz zurückgab.
Herr Jurij aus Wladiwostok meint beispielsweise: "Ich bin kein Fan von Putin, aber ich sehe niemanden, der eine bessere Vision für unser Land hat." Ist das so?
Das sehe ich anders, mir gefällt beispielsweise Putins außenpolitische Vision überhaupt nicht. Speziell wenn es um den "Informationskrieg" geht, den Versuch, mit Propaganda und wahrscheinlich auch Hacker-Angriffen die Wahlen in anderen Ländern zu beeinflussen. Aber das Zitat von Jurij ist kein Einzelfall: Viele Russen sind keine großen Fans ihres Herrschers, halten ihn aber pragmatisch für eine ganz vernünftige Wahl. Er sei ein starker Herrscher, ein Patriot, kein Dieb und kein Trinker - das sei doch schon mal was.
Zum Land selber: Ist Russland ästhetisch unschön? Sie behaupten: "Die Natur hat mehr Sinn für Ästhetik als der Mensch."
Sankt Petersburg, der Baikalsee oder die Berge des Altai sind sehr schöne, ästhetische Orte. Gleichzeitig gibt es tatsächlich viel Hässlichkeit, gerade was den Städtebau angeht. Viele Russen konnten nicht verstehen, warum ich ihr Land bereise, wenn ich doch für das gleiche Geld nach Thailand oder auf die Malediven könnte.