Von den mehreren 1.000 noch lebenden Sprachen werden nach Schätzung von Forschern auf lange Sicht nur einige 100 übrig bleiben. Mit jeder ausgestorbenen Sprache ist ein Stück Geist und Kultur unwiderruflich dahin, verschwinden auch Denkweisen und Erkenntnisfähigkeiten.

Die Zeitschrift "Psychologie heute" berichtete vor kurzem über Versuche von Wissenschaftern, durch Dokumentation von Gesprächen, Erzählungen, Beschreibungen und auch Liedern einer sterbenden Sprache das Kulturgut zu erhalten. Viele der sterbenden Sprachen sind nicht schriftlich erhalten. Hauptbeispiel des Berichts ist die Sprache eines Tartarenvolks in Zentralsibirien. Sie ist eine der mehr als 40 bedrohten Sprachen, deren Dokumentation die Volkswagen-Stiftung (Hannover) finanziert. Sie hat für diese Arbeit in den vergangenen vier Jahren 9,25 Mio. Euro ausgegeben. Von den 400 Angehörigen des Jäger- und Rentierhirtenvolks der Mittleren Chulym sprechen nur noch 40 ihre Muttersprache.

Von den weltweit noch lebenden 5.000 bis 6.000 Sprachen werden im Laufe des 21. Jahrhunderts aller Voraussicht nach zwei Drittel aussterben - fast jede Woche eine. Bei diesen Zahlen ist zu bedenken, dass 5.000 Sprachen von weniger als 100.000 Menschen gesprochen werden. Vor 10.000 Jahren, als die Erde eine Bevölkerung von etwa einer Million hatte, gab es schätzungsweise 10.000 bis 15.000 Sprachen.

Beschleunigter Sprachtod durch Globalisierung

Sprachen sind schon zu allen Zeiten gestorben, aber noch nie so viele so schnell. Gründe sind der globale Trend zur Anpassung, die Massenmedien, die Feindschaft vieler Regierungen gegenüber Minderheitensprachen, bessere Möglichkeiten für den beruflichen und sozialen Aufstieg mit einer Sprache, die möglichst viele Menschen sprechen. Mit den Kenntnissen von Sprachen wie Englisch, Spanisch, Portugiesisch und Französisch ist vielfach ein höherer Lebensstandard verbunden. In vielen Teilen der Welt gilt dasselbe für Russisch, Chinesisch und Arabisch.

Die Betreuerin des Programms der VW-Stiftung, Vera Szöllösi- Brenig, wurde einmal gefragt, ob weniger Vielfalt nicht eher ein Vorteil sei, weil die Menschen so leichter kommunizieren könnten. Ihre Antwort: "Wir betrachten heute Diversität und überdies die ganze Geschichte der Menschheit als Reichtum. Die jeweilige Sprache ist Ausdruck der Kultur, letztlich eine Weltsicht." Unter den von der Stiftung finanziell unterstützten Forschern sind David Harrison vom Swarthmore College (USA) und sein Kollege Gregory Anderson vom Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie. Seit 1995 fliegen sie fast jedes Jahr nach Sibirien, wo es ähnliche Beispiele wie jenes der Chulym gibt. Meist beherrschen nur noch die älteren Angehörigen einer Gemeinschaft solche Sprachen. Mit viel Geduld versuchen Harrison und sein Kollege, sie zum Reden und Erzählen zu bringen. Sie haben über die Chulym und das ähnliche Volk der Tofa ein Buch mit überlieferten Bildern und Geschichten produziert. Sie entdeckten dabei, dass die Tofa viele Bezeichnungen für Rentiere haben, die sie nach Geschlecht, Alter, Fruchtbarkeit, der Eignung zum Reiten und anderen Kriterien unterscheiden. Jüngere Tofa, die ihre Muttersprache nur noch bruchstückhaft lernen, haben vermutlich mit diesen Kennzeichnungen auch das Wissen darüber verloren, wie man mit den jeweiligen Tieren am besten umgeht.

Mit den Wörtern schwindet auch Wissen

Indianersprachen nannte unlängst der niederländische Wissenschafter Frederik Kortlandt als besonders konkretes Beispiel dafür, wie mit einer Sprache nicht nur Worte verschwinden, sondern auch Wissen verloren geht. Der südamerikanische Regenwald und dessen Pflanzen seien ohne diese Sprachen nur schwer zu nutzen, schrieb er. "Die Kenntnis um die Wirkung von Pflanzen, Früchten und Wurzeln ist oft an die Sprache gebunden."