Moderne Familien sind es nicht gewohnt, so viel Zeit miteinander zu verbringen, wie sie es in den vergangenen Wochen tun mussten, schon gar nicht unter Bedingungen, die sich wie ein nicht enden wollender Hausarrest anfühlen.

Die Familiensoziologin Ulrike Zartler erhebt nun in einer Studie, wie sich die Maßnahmen der Regierung auf das Familienleben auswirken. Mit der "Wiener Zeitung" sprach die Professorin der Universität Wien über erste Erkenntnisse.

"Wiener Zeitung": Sie haben gleich zu Beginn der Ausgangsbeschränkung mit der Studie begonnen, was versprechen Sie sich von dieser Aktualität, die in der Forschung eher unüblich ist?

Ulrike Zartler. - © privat
Ulrike Zartler. - © privat

Ulrike Zartler: Mir war wichtig, dass wir in dieser dynamischen Phase, in der sich wöchentlich die Lage ändert, sofort erheben, was sich in den Familien abspielt. Es macht einen großen Unterschied, ob man direkt in der Situation oder erst Wochen später über Ereignisse spricht, da ist die Erinnerung bereits von anderen Erlebnissen überlagert.

Was wollen Sie eigentlich erheben?

Die Studie analysiert, wie Familien mit Kindern im Kindergarten- und Schulalter mit der aktuellen Situation umgehen, wie sie das Familienleben gestalten und welche Veränderungen sie im Verlauf der Zeit erleben. Wir führen wöchentlich Telefoninterviews mit Personen aus ganz Österreich durch, ein anderer Teil führt ein Tagebuch. Insgesamt umfasst die Studie 95 Personen, das ist für eine qualitative Erhebung eine enorm hohe Anzahl.

Welche Erkenntnisse haben sich bereits herauskristallisiert?

Wer ein Haus mit Garten hat, erlebt diese Zeit komplett anders als jemand, der mit seinen Kindern in einer kleinen Wohnung lebt, wer im Homeoffice arbeitet, vielleicht sogar weniger zu tun hat als sonst, dem ergeht es anders als jemandem, der wegen des Lockdown in seiner Existenz bedroht ist. Bei den Kindern geht die Schere auf zwischen jenen, die von ihren Eltern bei den Aufgaben unterstützt werden, und denjenigen, bei denen das nicht möglich ist, die sich vielleicht sogar um jüngere Geschwister kümmern müssen, damit die Mutter ihrer Tätigkeit im Supermarkt oder Krankenhaus nachgehen kann. Besonders schwierig ist es für Alleinerziehende. Familien, die im Normalmodus schon belastet sind, geraten jetzt wirklich an ihre Grenzen. Die Bedingungen mögen sehr unterschiedlich sein, aber alle Familien leisten in dieser Zeit wirklich Unglaubliches.

Mit welchen Problemen sehen sich viele Familien konfrontiert?

Ein großes Thema ist: Wie strukturiert man den Tag, wenn Vorgaben von Schule und Job plötzlich wegfallen? Gewährt man Freiräume, die es sonst nur in den Ferien gibt, oder hält man an einer Art Stundenplan fest? Bleibt man im Pyjama oder macht man sich zurecht? Familien haben da viel experimentiert, um eigene Strategien zu entwickeln, die ihrer Lebenssituation am besten entsprechen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wenn beide Eltern im Homeoffice tätig sind, wurde oft eine Art Schichtbetrieb etabliert, während der eine seiner Büroarbeit nachgeht, kümmert sich der andere vermehrt um Kinder und Haushalt. Das ist immer auch ein Aushandlungsprozess und eine Frage der Prioritätensetzung. Wer "darf" eine Telefonkonferenz führen, obwohl der Volksschüler gerade Hilfe bei den Schulaufgaben und das Kindergartenkind Betreuung braucht?

Lassen sich im Homeoffice Kind und Karriere besser vereinbaren?

Wir sehen jetzt, dass man dabei sehr schnell an seine Grenzen kommt. Wichtig ist, die Erwartungen an sich und die anderen in dieser Ausnahmesituation nicht allzu hoch zu schrauben. Fast alle Familien haben übrigens auch angegeben, dass der Medienkonsum der Kinder deutlich gestiegen ist, der Fernseher ist jetzt für viele eine wirksame Maßnahme, um ungestört ihren beruflichen Tätigkeiten nachgehen zu können. Besonders schwierig ist es für viele Eltern, die Kinder abseits vom geregelten Schulalltag zum Lernen zu motivieren.

Was hat sich im Lauf der Zeit verändert?

In der ersten Woche haben uns einige Familien berichtet, dass sich die Situation ein wenig wie Urlaub anfühlte. Aber je länger der Ausnahmezustand dauert, umso mehr empfinden sie die Situation als belastend, auch in Familien, die gut miteinander auskommen, nehmen mit der Zeit die Konflikte zu. Man geht sich schlicht auf die Nerven, wenn man rund um die Uhr zusammen ist. Familien, die im Normalmodus schon belastet sind, sitzen jetzt auf einem Pulverfass. Anfangs gab es auch viel Zustimmung für die Maßnahmen der Regierung, der Unmut ist vor allem in der Phase der schrittweisen Öffnung gestiegen, als man beispielsweise schon wusste, wann Geschäfte und Friseure wieder aufmachen dürfen, es aber noch völlig unklar war, wann die Schulen ihren Betrieb aufnehmen werden. Dafür gibt es mittlerweile einen Fahrplan, für Eltern sind aber nach wie vor viele Fragen offen, zum Beispiel ob Geschwisterkinder in denselben Turnus des Schulbesuchs eingeplant werden oder sich die Situation dadurch verschärft, dass weiterhin zu jedem Zeitpunkt ein Kind zu Hause betreut werden muss.

Können sich Kinder nach der wochenlangen Unterbrechung wieder reibungslos in den Schulalltag einfädeln?

Kinder sind enorm anpassungsfähig, sie haben sich schnell an den Ausnahmezustand gewöhnt und werden sich auch wieder umgewöhnen. Viele freuen sich bestimmt auf die Schule, auf ein Wiedersehen mit ihren Freundinnen und Freunden. Die Wochen der Isolation waren für viele Kinder belastend, irritierend und auch beängstigend. Es wird erforderlich sein, auch in den Schulen zu besprechen und aufzuarbeiten, was die Kinder erlebt haben. Hier werden vor allem die Lehrkräfte gefragt sein, die Schülerinnen und Schüler nach der langen Pause wieder ins Boot zu holen.

Was lernen Familien in der Ausnahmesituation?

Im Idealfall lernen sie, sich besser aufeinander einzustellen und die gemeinsame Zeit auch zu genießen. Wir haben festgestellt, dass das Verständnis für die Lebensbereiche der anderen Familienmitglieder zunimmt: Homeschooling zeigt den Eltern, wie viel ihre Kinder in der Schule leisten; durch das Homeoffice gewinnen die Partner mehr Einblicke in die Tätigkeit des anderen; die sonst unsichtbare und unbezahlte Tätigkeit, die Frauen nach wie vor leisten, wird jetzt sichtbarer. An der klassischen Rollenaufteilung hat sich aber praktisch nichts geändert, die meisten Frauen übernehmen zusätzlich zum Homeoffice weiterhin die Betreuungsaufgaben innerhalb der Familien. Eine grundlegende Veränderung war auch nicht zu erwarten, das braucht viel mehr Zeit.

Welche Lehren könnte die Gesellschaft aus der Krise ziehen?

Krisen funktionieren immer wie ein Brennspiegel, decken Defizite, die ohnehin bestehen, unbarmherzig auf. Die Liste ist da leider lang. Die ungleiche Aufteilung und Bewertung von bezahlter und unbezahlter Arbeit, die fragwürdigen Arbeitsbedingungen in den sogenannten systemrelevanten Berufen, die enorm schwierigen Lebensbedingungen von Alleinerzieherinnen, die Schwierigkeiten in gewaltbelasteten Familien - all das sind Bereiche, über die wir uns als Gesellschaft Gedanken machen müssen. Auch und gerade während der Krise.