Erica Freeman wurde 1927 als Erika Polesciuk in Wien geboren. Mit zwölf Jahren emigrierte sie auf sich allein gestellt nach New York, studierte später Psychoanalyse und avancierte als Analytikerin zu einer Stütze vieler Hollywoodstars, zu ihren Freunden zählten unter anderem Marlon Brando, Liv Ullmann, Liz Taylor und Woody Allen. Als Radiomoderatorin, Beraterin der israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir, Erzbischof Kardinal König und Präsidentschaftsanwärterin Hillary Clinton sowie durch ihre Präsenz in zahllosen US-Talkshows wurde Freeman selbst zu einer Berühmtheit. Seit einigen Jahren unterhält die New Yorkerin in Wien einen Zweitwohnsitz.

Die "Wiener Zeitung" traf die Grande Dame in ihrem Stammcafé, in dem ihr der Ober "Kaffee à la Erica" serviert.

"Wiener Zeitung": Anfang des Jahres reisten Sie nach Wien und sitzen seit damals hier fest. Inzwischen befinden sich die USA im Ausnahmezustand: Die Corona-Pandemie wütet ungehemmt und die Demonstrationen nach George Floyds Tod entzweien die Nation. Wären Sie lieber in New York?

Erica Freeman: Gemeinsam mit meinen Freunden habe ich mich in den 1960er-Jahren bereits für die Civil-Rights- und FrauenBewegung engagiert. Damals wollte die Welt nicht sehen, was mit den Schwarzen in den USA passierte, es kümmerte schlicht fast niemanden. Heute ist das anders: Die ganze Welt ist empört. Wir haben also einiges erreicht.

Ein Wort zu Präsident Trump!

Ich stieß neulich auf folgenden schottischen Begriff: "Cockwamble". So bezeichnet man eine meist männliche Person, die unverschämt dumme Aussagen von sich gibt, sich unangemessen verhält und dabei eine überaus hohe Meinung von ihrer eigenen Intelligenz und Bedeutung pflegt. Seit hunderten Jahren gibt es diesen Begriff! Die Menschheit hat also schon mehrere Trump-Typen überstanden. Bald werden in Amerika auch Wahlen stattfinden. Die Lage ist also keineswegs aussichtslos.

Lassen Sie uns über Ihr langes Leben sprechen. Ihr Vater wurde ins KZ Theresienstadt deportiert, konnte entfliehen und sich nach Schweden absetzen; Ihre Mutter lebte in Wien im Untergrund und kam kurz vor Kriegsende bei einem der letzten Bombenangriffe ums Leben, Sie mussten als Kind auf sich allein gestellt emigrieren. Wie kamen Sie mit all dem zurecht?

Die Wege des Herrn sind unergründlich! So heißt es nicht von ungefähr. Schreckliche Dinge passieren - und nichts kann einen davor bewahren.

Welche Erinnerungen haben Sie an das Wien Ihrer Kindheit?

Ich erinnere mich an einen Aufmarsch der Nazis. Ein SS-Offizier kam auf mich zu, hob mich hoch, sagte: "So soll ein deutsches Kind aussehen!" Ich hatte blonde Zöpfe und blaue Augen. Später erhielt ich ein Affidavit für die Ausreise nach Amerika. Meine Mutter nicht.

Wie erinnern Sie sich an das Abschiednehmen von Ihrer Mutter?

Angst hatte ich keine. Wir taten, was getan werden musste. Ich versuchte, so tapfer zu sein, wie ich es meiner Mutter vor der Abreise versprochen hatte.

Wie verlief Ihre Ankunft in Amerika? Konnten Sie überhaupt Englisch?

Kein Wort. Ich sprach nur Hebräisch, Deutsch und Französisch. Anfangs war es schwer für mich, meine Verwandten mochten mich nicht sonderlich. Sie sagten zu mir: "Geh doch raus, spielen!" Ich war aber ein gut erzogenes Mädchen, das nicht auf der Straße spielte! Also verzog ich mich in eine Ecke und lernte Englisch. Auf der High School belegte ich dann Deutschkurse. Auf diese Weise brachte ich mir selbst Englisch bei. Mein Glück war, dass ich bald auf ein Internat kam.

Sie studierten beim Freud-Schüler Theodor Reik. Ihre psychoanalytische Praxis wurde bald zu einer Art Rettungsinsel vieler Schauspielstars.

Ich spreche grundsätzlich nicht über meine Patienten. Das Leben berühmter Menschen ist ohnehin schwer genug. Einmal war ich gemeinsam mit Liv Ullmann und Elizabeth Taylor zum Lunch eingeladen. Die anwesenden Journalisten begegneten Ullman äußerst zuvorkommend, doch kaum betrat Liz Taylor die Szenerie, wurde Taylor von denselben Journalisten umzingelt und geradezu wie eine Beute gejagt. Ihr Journalisten macht Menschen berühmt, dabei werden manche Stars gejagt, andere mehr respektiert. Das ist ein interessantes Phänomen.

Haben Sie einen besonderen Draht zu kreativen Menschen?

Vielleicht gibt es so etwas wie eine Seelenverwandtschaft, ein Verständnis für die Verletzlichkeit Kreativer. In dieser Welt muss man ein bisschen meschugge sein, um nicht ganz verrückt zu werden.

Sie selbst stammen aus einer besonderen Familie: Ihre Tante Ruth Klüger-Aliv war Mossad-Agentin und rettete während der Nazi-Diktatur Tausenden Juden das Leben.

Sie war eine große Heldin! Sie gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Geheimdienstes Mossad, als einzige Frau. In Rumänien organisierte sie unter Einsatz ihres Lebens Schiffe, um Juden nach Palästina zu verschiffen. Nach dem Krieg führte sie eine Mission nach Südamerika. In der deutsch-amerikanischen Zeitung "Aufbau" suchte sie mittels eines Aufrufs nach mir - so lernten wir uns kennen. Ich war auf der Stelle hellauf von ihr begeistert. So erging es übrigens jedem mit ihr: Man erlag ihrem Charme, sie hatte eine unglaubliche Ausstrahlung von Menschlichkeit und Tapferkeit! Mit ihr gemeinsam wollte man sofort die Welt retten. Sie war größer als das Leben selbst.

Ihre Mutter ging ebenfalls in die Geschichte ein.

Meine Mutter Rachel verkleidete sich in ihrer Jugend als Mann, um Hebräisch lernen zu dürfen, weil Frauen das seinerzeit untersagt war. Das inspirierte den Schriftsteller Isaac B. Singer zu dessen Erzählung "Yentl". Was für eine Masel habe ich, Teil dieser Familie sein zu dürfen! Alle Frauen in meiner Familie waren Heldinnen.

Wie kommen Sie mit den Zumutungen des Alters zurecht?

Ich verstehe nicht, warum das Alter einen so schlechten Ruf hat. Ich werde bald drei Mal 31 Jahre alt und bin immer noch da, mit mehr Lebenserfahrung als je. Solange man gesund ist, kann man etwas bewirken.

Welche Zeit war Ihre beste?

Die beste Zeit ist immer die Gegenwart. Ich bin gerade in jener Stadt, in der man mich als Kind ermorden wollte. Heute bin ich hier willkommen, werde interviewt, selbst die Kellner im Cafe Korb kennen mich und nennen mich beim Namen. Wenn dich der Ober in Wien kennt, dann hast du es geschafft.