Biagio M. sitzt in Gangi in einer Trattoria und erklärt dem Gastwirt die Welt. Den Unterschied, in einer quirligen Großstadt zu leben oder in einem Dorf. Das Gefühl, von Wolkenkratzern eingeengt zu sein, die den Blick auf den azurblauen Him- mel versperren, oder von einem Balkon auf liebliche Täler zu blicken. Sein halbes Leben habe er als Arzt beruflich in den USA und Abu Dhabi verbracht und fast ebenso lange in dem hübschen, mittelalterlichen Städtchen Cefalù, 120 Kilometer von Palermo entfernt, Urlaub gemacht. Dann habe das Schicksal unerwartet zugeschlagen, als er erfuhr, dass in der Gegend Häuser für einen symbolischen Euro zum Kauf angeboten wurden. "Ein spannendes Angebot, vor allem aber auch ein emotionaler Gedanke, eine eigene Unterkunft auf der Insel der Ahnen zu besitzen!"
Der Arzt ist längst nicht mehr der Einzige, der Aldo Conte mit taufrischen Stories aus aller Welt auf dem Laufenden hält. An den gedeckten Tischen seines Restaurants sitzen in der Urlaubszeit Tagesausflügler aus Palermo Seite an Seite mit Haus- oder Wohnungseigentümern aus Israel, England, Schweden, Russland oder Deutschland - und genießen entspannt die hausbereiteten sizilianischen Gaumenreize. Antike Familienfotos an den Wänden vermitteln ein Gefühl von Gemütlichkeit. Die einheimische Dorfgemeinschaft, sagt der alteingesessene Wirt, hat sich längst an die fremden Mitbewohner gewöhnt und betrachtet sie als Bereicherung, indem sie Leben in den Alltag - und auch in die Wirtschaft bringen.
Verlassene Ruinen
Das Phänomen der seit Jahrzehnten leer stehenden Häuser geht auf die sich über Jahrhunderte hinziehende Emigration zurück. Schon lange vor der Vereinigung Italiens im Jahre 1861 begann aufgrund der harten Lebensbedingungen eine enorme Auswanderungsbewegung, sowohl in die USA, als auch nach Südamerika.
Zwischen 1875 und 1900 verließen in ganz Italien über fünf Millionen Menschen ihre Heimat. Mit der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts setzte erneut eine Auswanderungswelle ein.
Vor allem Frankreich, Deutschland und die Schweiz, aber auch die Vereinigten Staaten brauchten billige Arbeitskräfte. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges begannen vor allem die Süditaliener erneut, der Armut zu entfliehen, vorwiegend in die europäischen Länder. Immer mehr Häuser begannen leer zu stehen und zu verfallen. Von einigen konnte man nicht einmal mehr die ursprünglichen Eigentümer ausfindig machen. Heute ist es vor allem die junge Generation, die aus Mangel an Arbeitsplätzen in die Städte zieht oder erneut auswandert.
2001 schlossen sich in Italien ein paar Dutzend, meist mittelalterliche Ortschaften - jenseits der üblichen Touristenpfade - zu einer privaten Vereinigung unter dem Namen "I BORGHI PIU’ BELLI D’ITALIA", die schönsten Dörfer Italiens, zusammen. Der Zweck war, die landschaftlichen, historischen und künstlerischen Merkmale und Interessen der einst um Burgen oder Schlösser herum entstandenen Ortschaften aufzuwerten. Voraussetzung für die Aufnahme in die Vereinigung waren Bewohnbarkeit und architektonische Harmonie des Ortes sowie ein bestimmtes Maß an geschichtlicher Bedeutung.
Der Verein organisiert in den jeweiligen Orten Festspiele, Aus-stellungen und Konferenzen, die das kunsthistorische und gastronomische Erbe unterstreichen. Alljährlich wird unter allen Mitgliedern das "schönste Dorf Italiens" gewählt.
Im Jahre 2014 gewann Gangi das begehrte Prädikat, erzählt Bürgermeister Francesco Paolo Migliazzo. Ein Jahr später begann die Gemeinde, als erste in Italien, verlassene Häuser für einen symbolischen Euro anzubieten - mit der Auflage, dass der Interessent 5000 Euro hinterlegt und sich verpflichtet, das Anwesen innerhalb von drei Jahren, mit ausschließlich einheimischen Arbeitskräften, bezugsfertig zu machen. Ansonsten behält die Gemeinde den Betrag ein. Manche Gebäude sind nahezu Ruinen, ohne Strom- und Wasseranschluss, und müssen von Grund auf renoviert werden. Andere, zum Teil bewohnbar, werden zu einem Mindestpreis angeboten.
Wie die meisten sizilianischen "Borghi" hat Gangi sein Labyrinth aus schmalen Gassen über die Jahrhunderte unverändert bewahrt. Mal öffnet sich ein ausgetretener Treppenweg überraschend zu einem sonnigen Plätzchen, mal stößt man unerwartet auf eine der 17 Kirchen mit Altarbildern berühmter Künstler, in denen ältere Frauen mit schwarzen Kopftüchern gemeinsam und monoton den Rosenkranz beten. Zu den absoluten Highlights gehört etwa die Krypta in der "Mutterkirche" aus dem 17. und 18. Jahrhundert, mit makaber mumifizierten Priestern und Prälaten, aufrecht an den Wänden aufgebaut und zeitentsprechend gekleidet.
In den 1970er Jahren war Gangi ein beliebter Drehort für mehr oder weniger geschichtsgetreue italienische Mafiafilme, die damals Mode waren. 2008 inspirierte die spezielle Atmosphäre der Altstadt Wim Wenders für einige Szenen seines Psychodramas "Palermo Shooting", in dem er sich mit der Vergänglichkeit des Seins auseinandersetzt. Heute setzt das nur noch knapp 7000 Einwohner zählende Städtchen hauptsächlich auf Wiederbelebung und Tourismus.
Kunst und Genuss
Die Strecke von Gangi nach Cefalù, seit Jahrzehnten einer der beliebtesten Badeorte Siziliens, legt man in einer Autostunde zurück. Schon von Weitem erkennt man das Städtchen an seiner unverwechselbaren Silhouette, die im 18. und 19. Jahrhundert ein beliebtes Motiv bei Landschaftsmalern war. Ursprünglich diente der Hafen dem Fischfang, der für die Bewohner eine der Haupteinnahmequellen darstellte. Nachdem 1957 in der weiten Sandbucht von Santa Lucia der erste Club Mèditerranèe in Südeuropa eingeweiht wurde, dümpeln heute im Sommer an der Mole die Boote und Yachten der Urlauber.
Cefalù zog seit ältester Zeit die Menschen an. Der sogenannte Diana-Tempel stammt aus dem 9. Jahrhundert v. Chr., Reste einer megalithischen Verteidigungsmauer aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. Durch den Corso Ruggero, die Hauptflaniermeile mit ihren zahlreichen, arabisch anmuten- den Seitengassen, gelangt man zur Piazza del Duomo mit dem Normannendom. Der Bau des Meisterwerks mit seinen maurisch wirkenden Kreuzgängen und byzantinischen Mosaiken wurde 1131 unter Roger II., König von Sizilien, begonnen.
Der Domplatz gibt den Blick direkt auf die Kathedrale, am Fuße steiler Klippen frei, die sich bis hinauf zu den Festungsanlagen ziehen. Ein idealer Ort für Urlauber, die Kunst und Genuss gleichermaßen lieben. In den Cafés auf der Piazza werden hausgemachte, sizilianische Spezialitäten auf höchstem Niveau serviert: Cassata, bunte Marzipanfrüchte, Mandelplätzchen und natürlich die allzeit beliebten Cannoli - in allen Varianten.