Der Vielgestalt des Lebens auf die Finger zu schauen, hat die Wiener Regisseurin Ruth Mader von Anbeginn ihrer Karriere interessiert. Zu ihren bekanntesten Filmen zählen "Struggle" (2003), "What is Love" (2012) und zuletzt "Life Guidance" (2018), die allesamt bei internationalen Festivals reüssierten. Doch Mader nutzt drehfreie Zeiten gerne auch für ihre zweite Leidenschaft: das Fotografieren.
Genau damit befasst sich eine Ausstellung mit ihren aktuellen Arbeiten: Für die "Fotoserie Siemensstraße" pilgerte die 46-Jährige mit ihrer Kamera von Haustür zu Haustür, in der Hoffnung, Zutritt in ganz unterschiedliche Lebenswelten zu erhalten, in die Vielgestalt des Lebens eben. Herausgekommen sind Porträts von Menschen im Gemeindebau Wien Siemensstraße 21-55. Und damit Einblicke in den zeitgenössischen Wiener Alltag - Menschen- und Stadtporträt gleichermaßen.
"In einer Gemeindebauanlage haben viele Wohnungen die gleichen Grundrisse. Mich hat interessiert, die Menschen, die hier leben, zu porträtieren", sagt Mader. "Die Frage, die ich mir stellte, war: Wie werden gleiche Wohnungsgrößen und Grundrisse unterschiedlich belebt? Aber auch: Welche anderen Wohnformen wie individuelle Gartengestaltungen und Gartenwohnungen gibt es in der Anlage Siemensstraße?"
Ihre Fotos fangen die Architektur des Baus ein und konzentrieren sich auf die Gesichter und das Leben der Bewohner, wie sie mit ähnlichen Wohnverhältnissen unterschiedlich umgehen. Mit ihren Momentaufnahmen legt sie auch die sozialen und persönlichen Verhältnisse der Porträtierten offen: Viele von ihnen blicken direkt in die Kamera, befinden sich dabei im Zentrum ihres Lebensmittelpunkts, der viel über sie als Menschen aussagt. Mal ist Mader in einem penibel sauber gehaltenen Haushalt zu Gast, in dem ältere Damen einen gepflegten, konservativen, aber auch herzlichen Eindruck machen; mal sind es Gemeindewohnungen, in denen schon lange keine Putzlappen mehr den Boden gewienert haben.
Geforderte Betrachter
Dem gegenüber glänzt der adrette türkische Haushalt nebenan regelrecht, und seine beiden Eheleute strahlen eine herzliche Zufriedenheit aus. Mal sind es Porträts im Zwie- oder Gegenlicht, so mancher Protagonist wirkt darin verloren in einer Einsamkeit, wie sie in vielen Wohnungen herrscht, vor allem dort, wo man alleine lebt oder wo man einmal gemeinsam gelebt hat. Wieder andere Bilder zeigen alleinstehende Rentner zwischen Hab und Gut, alten CDs und DVDs, die das Bett säumen und wo der dazugehörige Bewohner die Lebenslust schon lange nicht mehr gesehen hat.
Maders Fotos erzählen Geschichten, aber sie erzählen sie nicht aus; der Betrachter selbst ist gefordert, die Perspektiven, mit denen Mader die Lebensräume ihrer Fotomotive versieht, zu entschlüsseln oder sie zu einem Ganzen zusammenzufügen. Darin liegt ihre Qualität: Den Menschen so in die Seele blicken zu können, ohne sie nackt zu machen.