Motivation ist alles. Eltern wissen das und zwingen mit dem Satz "Iss auf, denk an die armen Kinder in Afrika" seit Jahrzehnten Essenreste in den eigenen Nachwuchs. Diese sehr spezielle Form der praktizierten Nächstenliebe könnte auch der Grund sein, warum Erwachsene, die unter diesem Diktum aufgewachsen sind, später kein Problem haben, ständig von "Hilfe vor Ort" zu fantasieren, während Kinder bei Eiseskälte zwischen Ratten und Müll in Flüchtlingslagern (wie Moria auf Lesbos) existieren müssen. Diese Erwachsenen haben ja schon als Kinder gelernt, dass man sich nicht von hungrigen, frierenden, fremden Kinder den Appetit verderben lassen darf.
Und aus einem ganz ähnlichen Grund wird zu Weihnachten immer an jene Menschen gedacht, die "das Fest allein verbringen müssen". TV-Moderatorinnen und Moderatoren, die das ganze Jahr lang ohne innere Widerstände vom brennenden Bauernhof, in dem eine ganze Familie den Tod gefunden hat, mühelos zum traditionellen Brauch des Eierschaukelns in einem beliebigen Alpental überschwenken können, entdecken in Zeiten des abnehmenden Tageslichts plötzlich ihre Empathie. Schauen treuherzig wie ein Dackel mit Hunger in die Kamera, senken ihre Stimme auf Kindergartenniveau und mahnen uns mit sanftem Ton wie der Spezialist vor der Verkündigung der Krebsdiagnose, an jene zu denken, die "einsam dieser Tage" sind.
Das! ist! schön!
Den Rest des Jahres einsam zu sein, ist völlig okay. Aber nicht zu Weihnachten. Da lautet der Tagesbefehl: Alle! Zusammen! Jetzt! Aufstellung vor dem Christbaum, Haltung annehmen, Absingen des akustischen Massenvernichtungsmittels "Stille Nacht", Geschenkpapier zerreißen, Freude heucheln, fressen, saufen, wegtreten! Das! ist! schön!
Wer aber trotzdem geistig desertiert, weil er sich nicht ganz sicher ist, ob es so "schön" ist, sich mit Eltern, die sich nichts mehr zu sagen haben, depressiven, internetsüchtigen Kindern und einem Partner, der einen zu Tode langweilt, aber trotzdem bis aufs Blut reizt, eingesperrt in einer sauerstoffarmen Wohneinheit (Jö, Kerzen!), fettem Essen und Unmengen von Alkohol wiederzufinden, der wird dem Gedanken an jene, "die heute alleine sind", zurück in die Truppe geholt.
Aber ist es denn wirklich so schlimm, alleine zu sein? Welche großen Werke der Weltliteratur sind erst durch Einsamkeit entstanden? Wie viele Wissenschafter konnten erst durch Selbstisolation jene bahnbrechende Entdeckung machen? Und hat nicht sogar der Herr Jesus, dessen Geburtstag zu Weihnachten - angeblich - begangen wird, vierzig Tage lang die Einsamkeit der Wüste der Gesellschaft der Menschen vorgezogen? Gut, es soll ihn dort der Teufel versucht haben. Aber das ist nichts, was einem Weltreligionsnamensgeber gleich die Schuh auszieht. Den Teufel hat er locker weggesteckt. Umgebracht haben ihn dagegen Menschen. (Römer, um genau zu sein.) Allein in der Wüste wär ihm das nicht passiert.
Anders herum wird es noch offensichtlicher: Wäre Adolf Hitler allein zuhause geblieben, in einer kleinen Wohnung in Wien, Postkarten malend . . . wen hätts gestört? Josef Stalin kommandiert, allein in den georgischen Bergen, Schafe herum. Mao Zedong spricht einsam zu seinem Reisfeld. Alles ein Gewinn für die Menschheit.
"Aber der Mensch ist doch ein soziales Wesen!", hör ich die Massen aus der Ecke mit dem zu großen Christbaum rufen. Ja, sicher, wenn man Mammuts jagen will oder einen Wald roden, ist es auch recht vernünftig, sich zusammenzutun. Aber sonst? Was bedeutet denn Gesellschaft? Soziale Wärme, Interaktion, Austausch . . . sicher, sicher, sicher. Aber auch: Ausgrenzung, Herabwürdigung, Hackordnung, Intrige, Machtspiele, Ablehnung, Verächtlichmachung, Gewalt und Demütigung. Wer es nicht glaubt, möge sich kommenden Sommer eine Gruppe pubertierender Jugendlicher im Freibad anschauen. Oder einen Blick in irgendein beliebiges "Soziales" Netzwerk werfen.
In der Einsamkeit ist das alles unbekannt. Oder hat man schon einmal etwas von "Self-Mobbing" gehört? Und hat uns nicht gerade dieses Jahr gezeigt, welche Vorteile das massenhafte Ausbleiben von Menschenmassen hat? Und das nicht nur virologisch. Das Nichtzustandekommen des Eurovision Song Contests, der Fußball-Europameisterschaft, der Olympischen Spiele, des Oktoberfestes, aller künftigen Karnevals- und Faschingsumzüge und sämtlicher Après-Ski-Veranstaltungen ist doch ein enormer intellektueller, emotionaler, ökologischer und psychischer Gewinn. Und da sind religiöse Zusammenkünfte wie Kirchenbesuche, Erotikmessen und die Internationale Automobilausstellung noch gar nicht miteingerechnet.
Und heißt es nicht, Weihnachten wäre die Zeit der Besinnlichkeit? Wie soll man sich denn besinnen, wenn einem die Oma beim Karpfen von ihren Hämorrhoiden erzählt, der Nachwuchs sich mit der Spielkonsole den Schädel einschlägt und der Christbaum im Nebenzimmer sanft in Richtung Zimmerbrand tendiert? Warum wird denn zu Weihnachten so viel gesoffen? Weil es so schön ist?
Und die Gespräche dieses Jahr: Wie der Lockdown im Frühling war und wie im Herbst (Spoiler: Im Herbst war es kälter), wie alle geklatscht haben für die Supermarktkassiererinnen und wie die seither trotzdem nichts verdienen, wie alle gesungen haben und die eine "So schee is des net" dazwischen geplärrt hat. Und alle, alle, alle Witze über Klopapier und Nudeln werden wieder und wieder erzählt werden. Dazu reicht man superlustige Memes auf den Smartphones herum. Jeder darf auf das Phone einmal Speisereste draufspucken und es weiterreichen. Das wird ein humoristisch-hygienischer Höhepunkt.
Trauriger Gesundheitsminister
Und nach dem Heiligen Abend werden die Zahlen steigen und der Gesundheitsminister wird wieder dieses traurige Gesicht machen und der Kanzler mit seinen Händen Pakete eines Online-Versandhauses in die Luft malen und dann wird wieder zugemacht und versprochen, es wird allen geholfen. Dann kriegen die Luftfahrt und die Automobilzulieferer wieder Geld und die Künstler können verrecken. Und alles nur, weil wir "diesen Abend" nicht "alleine verbringen" dürfen. Ja, warum denn nicht? Wir haben doch das ganze Jahr geübt!
Und jetzt im Finale sollen wir unsere neu erworbenen Skills, wie 23 Folgen Serien in acht Stunden schauen, neun Tage in der selben Pyjamahose existieren und Pizzakartons leeren, nicht anwenden dürfen? Wem sind denn die Kollegen im Büro wirklich abgegangen? Die brüllenden Fußballfans? Der Massenandrang beim Textildiskonter? Die Wahlkampfveranstaltungen?
In diesem Sinne, werte Leserin oder werter Leser, sollten Sie dieses Jahr die "Stille Nacht" allein und damit tatsächlich ausnahmsweise still verbringen, dann: Freuen Sie sich und denken Sie an die "armen Menschen in den Wohnzimmern".
Motivation ist alles.