Worten wohnt etwas zutiefst Trügerisches, ja Fiktionales inne. Sie sind nur eingeschränkt geeignet, unsere Welt in ihrer Komplexität zu beschreiben. Muss doch jeder Begriff, den wir verwenden, den benannten Gegenstand reduzieren, grob vereinfachen. Um Baum, um Berg, um Tisch sagen zu können, muss jede Sprecherin alle spezifischen Eigenschaften des konkreten Objektes ausblenden, geradezu ausradieren. Was dabei verschwindet, sind die vielen haptischen Details der Oberfläche, der Größe, der Farbe. Was bleibt, ist lediglich das verbindende Skelett, das Baum mit Baum, Tisch mit Tisch, Berg mit Berg gemein hat. So betrachtet ist unser Blick auf die Welt, der ja in den Kategorien der Sprache passiert, stets mangelhaft und trügerisch. Er ist stets ein So-tun-als-ob. Einmal in Sprache eingetaucht, gibt es kein Zurück in das Davor, unsere Weltsicht ist also immer verzerrend verarmende Illusion.
Geht man von dieser trügerischen Beschaffenheit der Wahrnehmung von Wirklichkeit durch Sprache aus, so führt sich der programmatische Titel des diesjährigen Philosophicum Lech selbst ad absurdum. "Als ob! Über die Macht der Fiktion" lautete das Tagungsthema der hochalpinen Denkwerkstatt am Arlberg vergangenes Wochenende. Auch Konrad Paul Liessmann, wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum, spitzte die These in seinem Vortrag zu, dass jeder Begriff ein So-tun-als-ob ist. Oder mit Friedrich Nietzsche gesprochen: "Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen", ist somit unausweichliche Illusion. Und doch steckt bekanntlich in der Einschränkung der Krücke Sprache ein ungemeines Geschenk, das den Menschen erst zum Menschen macht: die Fähigkeit zu Kommunikation über die Welt, zur sozialen Interaktion mit einander. Liessmann leitete daraus ab, dass jede Form des Sozialen damit ebenso ein Als-ob bedeute, dass ohne diese Fiktion schlichtweg keine Kultur möglich sei. Doch wenn alles Fiktion ist, lohnt es dann noch, über die Macht der Fiktion nachzudenken? Die Antwort der Vorträge in Lech war ein klares Ja, blickten sie doch wie durch unterschiedlich schillernde Brenngläser auf das allumfassende Als-ob alles Menschlichen.
Wahrheit in der Fiktion
Literatur, Kunst, Politik, Philosophie, Astrophysik und Digitalisierung - in all diesen Bereichen funktioniert das Spiel aus Fiktion und Realität ein wenig anders, reagiert das soziale Wesen Mensch auf das Ungenügen von Sprache speziell, verläuft die Trennlinie zwischen Illusion und Fakt entlang einer anderen Bruchline - trennscharf ist sie nie. Nicht einmal in der Literatur, die stets in den Bereich Fantasie verweist. Thomas Strässle etwa ging der Frage nach, ob es zwischen dem faktualen, also dem faktentreuen Erzählen und dem fiktionalen eine dritte Kategorie gibt, die des "faketionalen" - wenn ein Autor versucht, eine erdachte Geschichte wahr erscheinen zu lassen. Als Literaturwissenschafter versuchte Strässle dabei, die Erzählstrategien aufzuspüren, die hinter Fake News stecken, diese feine Balance aus Wissen und Nichtwissen, aus Plausibilität und Zuspitzung, aus Klarsicht und Täuschung auszuloten.
Daniela Strigl gab in Ergänzung dazu Einblicke ins Biografie-Schreiben. Die Germanistin aus Wien zeigte mit "Abgeschrieben kann das Leben nicht werden, dazu ist es zu reich" die Konflikte auf, in die jede Biografin notgedrungen gerät beim Versuch, ein fremdes (oder eigenes) Leben möglichst authentisch zu rekonstruieren. Neben Problemen von Nähe und Distanz sowie der Vervollständigung biografischer Spuren, verwies sie auf die komplexe Verwebung von Biografie und Werk, auf die Versuchung, ein Leben stets aus dem Werk abzuleiten - und umgekehrt. Die Grauzone zwischen Realität und Fiktion ist äußerst durchlässig, so auch ihr Schluss.
Matthias Burchardt begegnete dem Thema grundsätzlicher: Wie tauglich sind unsere Denkmittel der Sprache, der Bilder und der Zahlen denn überhaupt, um Welt zu erfassen und auch zu gestalten, fragte er sich. Anhand der Bildungspolitik, konkret anhand des Pisa-Tests, erörterte er die Probleme, die entstehen, wenn wir versuchen, die Wirklichkeit durch "das Schlüsselloch der Zahlen" zu betrachten. Scheinbar unbestechliche Ziffern erwiesen sich hier schnell als trügerisch und verzerrend. Vor allem, wenn mit diesen Zahlen wiederum Wirklichkeit gestaltet wird, so seine zentrale These, sind die blinden Flecken einer reinen Politik der Zahlen fatal für komplexe gesellschaftliche Weiterentwicklungen.
Zu bunt für ein Abbild
Mit dem Als-ob der repräsentativen Demokratie befasste sich Andreas Urs Sommer. Politische Repräsentation, so seine Analyse, sei nicht mehr geeignet, um eine sich immer mehr ausdifferenzierende Gesellschaft abzubilden. Zu heterogen seien die gesellschaftlichen Gruppen. Sommer hielt ein Plädoyer für die Einübung direktdemokratischer Methoden, um durch die gemeinsam getragene Verantwortung "radikalen Effekten der Subjektivierung entgegenzuwirken". Lambert Wiesing fächerte die Realitäts- und Fiktionsebenen der Fotografie und der Bildgebung auf und näherte sich der Frage, wann wie und warum ein Bild ein fiktionales ist. Er zeigte eine Parallele zur Sprache auf: Auch im Bild findet eine Reduktion eines Objektes statt: auf dessen Sichtbarkeit - egal ob es existiert oder nicht.
Die Philosophin Barbara Bleisch näherte sich als Gegenentwurf zu so viel Täuschung dem Konzept der Echtheit an. Vor allem die Grenzen der Echtheit oder Authentizität faszinierten in ihrer Analyse: Wenn Echtheit etwa in platte Direktheit abgleitet oder sich als "Krankheit unserer Zeit" als Fetisch der Individualität erweist. Nicht in zwanghafter Neuerfindung ortet Bleisch eine erstrebenswerte Echtheit, sondern in der schlichten Rückbesinnung auf sich selbst. Die drei finalen Disziplinen des Philosophicum, die sich dem Als-ob unserer Existenz näherten, verwiesen in Dimensionen, die seit je an Grenzen unserer Erkenntnismöglichkeit stoßen. Astrophysikerin Sibylle Anderl zeigte die Beschränkung menschlichen Erkennens am aktuellen Forschungsstand zur Dunklen Materie. Zwischen Theorien, Modellrechnungen und Beobachtungen tappe der Mensch hier im wahrsten Sinne des Wortes im Dunklen, sei hier nicht nur auf sich selbst, sondern in das Reich der Fiktionen zurückgeworfen.
Während die Astrophysik mit ihren Messgeräten stets in die Vergangenheit blickt, um daraus Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen, wagte Sophie Wennerscheid einen Blick in die Zukunft. Sie machte sich dafür stark, das Verhältnis von Mensch zu Maschine, Mensch zu KI künftig nicht nur als bloße Subjekt-Objekt-Einbahnstraße zu betrachten, in der der Mensch befiehlt und die Maschine ausführt. In ihrer Skizze eines Netzwerks des Begehrens plädierte sie dafür, in unserem Beziehungsverhalten zu Menschen wie Dingen Pluralität einkehren zu lassen.
Fürsorgliche Nanny-KI
Medienwissenschafter Roberto Simanowski blickte noch weiter voraus und versuchte den Vormarsch von Algorithmen weiterzudenken. Seine Gedankenexperimente von der "fürsorglichen Nanny-KI", die die Vollzeitaufsicht über den Menschen übernimmt, um die Menschheit vor ihren Verfehlungen (Stichwort: Klima) zu erretten, zeichneten ein düsteres Bild einer Entwicklung weg vom Kult des Individualismus hin zum Primat des Kollektivs nach dem Motto "Menschheit first". Das Szenario eines von allen Entscheidungen und damit allen Konflikten befreiten Menschen, zeichnete ein sehr fragwürdig paradiesisches Happy-End für die Menschheit.
Doch dass wir unsere allzumenschliche Menschlichkeit - Gottseidank - noch lange nicht überwunden haben, zeigt das Thema des Philosophicums 2022: Es widmet sich dem Hass.