Es ist eine schöne Vorstellung: Es gibt diese eine Bewegung, die immer dann auf den Plan tritt, wenn der Frieden in Gefahr ist. Wer etwa am 15. Februar 2003 die Nachrichten verfolgt hat, könnte diesen Eindruck gewonnen haben - über zehn Millionen Menschen demonstrierten damals gegen den drohenden Irak-Krieg. Dieses Bild einer geeinten Bewegung hat mit der Realität allerdings nur wenig zu tun. Dieses Phänomen beschränkt sich zwar nicht auf die Friedensbewegung - schließlich marschieren bei Corona-Demos auch Ultrarechte neben besorgten Müttern -, dennoch sollen unterschiedlichste Interessen und Motive in einer Bewegung vereint werden.
Friedensbewegungen sind soziale Bewegungen, die Kriege und Kriegsformen aktiv und organisatorisch verhindern wollen. Sie sind meist gegen Kriegsrüstung und wollen den Krieg als Mittel der Politik ausschließen.
Aber welche Motive haben Menschen, die sich für Frieden starkmachen? Es spielen viele Faktoren eine Rolle: Ressentiments für oder gegen die USA, für oder gegen Russland. Politische Positionierung, in diesem Fall eher links verortet. Die Tradition der Althippies und der Wunsch, coole Protestsongs aus den 1960er Jahren mitzusingen. Und natürlich die echte Friedensanhängerschaft. Eine übergeordnete Organisation gibt es bei der Friedensbewegung nicht. Sie setzt sich aus unterschiedlichsten Strömungen und Verbänden zusammen. Was bisweilen nach einer Schwäche klingt, kann sich mit dem richtigen Momentum als Stärke entpuppen: dass verschiedenste Lager für ein gemeinsames Ziel arbeiten.
Solidarität mit der Ukraine
Friedensbewegungen sind keine Erfindung der Neuzeit. Schon im antiken Griechenland setzten sich Gruppierungen für Frieden ein. Nach dem Kalten Krieg schlief die Bewegung etwas ein, doch dann kam der Irak-Krieg 2003, und die Friedensbewegung agierte global und stärker als je zuvor, besonders in Europa. Vor allem George Bush als gemeinsames Feindbild einte die Demonstrierenden. Danach erreichte die Friedensbewegung kein solches Ausmaß mehr. Es gab zwar Proteste zum
israelisch-palästinensischen-Konflikt oder gegen die EU-Verfassung 2004/2005, sonst aber blieb es eher ruhig auf den Straßen - bis zu "Fridays for Future" 2018 und den Demonstrationen rund um "Black Lives Matter" 2020, die um die Welt gingen.
Der inzwischen heiß gewordene Ukraine-Konflikt hat mittlerweile auch zu Aktionen auf der Straße geführt. Die Protestbewegung hatte sich anfangs etwas schleppend organisiert, mittlerweile jedoch an Fahrt aufgenommen. In Wien sind vor allem die Vereine "Vienna goes Europe" und "Unlimited Democracy" mit der Organisation von Friedensdemos beschäftigt. Während am "Europäischen Tag der Solidarität mit der Ukraine" am 19. Februar noch eine überschaubare Anzahl an Menschen auf die Straßen ging (circa 300 Protestteilnehmende in Wien), nahm bei den letzten Veranstaltungen die Zahl der Demonstrierenden stark zu. Auch für Samstag ist um 15 Uhr am Platz der Menschenrechte eine Demonstration mit dem Titel "Stop Putins War" geplant. Als Redner haben sich unter anderem Christoph Wiederkehr (Neos) und Michel Reimon (Grüne) angesagt.
Fehlendes Momentum
Warum jedoch hat es im aktuellen Ukraine-Konflikt so lange gedauert, bis Bewegung in die Proteste gekommen ist? Ist die Friedenbewegung auf einem (dem russischen) Auge blind?

Kati Schneeberger von der Vereinigung "Vienna goes Europe" sagt dazu: "Mein Eindruck ist, dass es für die Menschen in den osteuropäischen Ländern weniger Empathie gibt. Ihre Kultur ist weniger präsent als die westliche, und die emotionale Teilung Europas während des Kalten Kriegs wirkt noch nach. Auf der anderen Seite gibt es jene, die mehr emotionale Nähe zur ehemaligen Sowjetunion haben und diese jetzt Russland entgegenbringen, aber nicht den unabhängig gewordenen Ländern. Die tatsächliche Bedrohung durch Russland wird heruntergespielt."
Auch die Berufung auf Österreichs Neutralität sieht sie problematisch: "Die Bevölkerung eines demokratischen Landes darf und soll sich sehr wohl positionieren, nämlich für ihre Werte und für die Einhaltung des Völkerrechts."
Anna Pattermann von "Unlimited Democracy" meint, dass die größte Gefahr für die Demokratie sei, sie als selbstverständlich hinzunehmen. "Europa hat sich im Ukraine-Krieg bisher so wenig engagiert, weil es seit acht Jahren Probleme in der Region gibt und die Leute sich dran gewöhnt und es nicht mehr so richtig wahrgenommen haben. Gefühlt ist die Ukraine sehr weit weg." Dennoch nahmen am "Europäischen Tag der Solidarität mit der Ukraine" 30 Städte in ganz Europa an den Protesten teil. "Es geht nicht nur um die Ukraine und um demokratische Werte, sondern um die gesamte europäische Sicherheitspolitik. Da müssen sich alle Länder zusammenschließen", sagt sie. Pattermann hat auch persönliche Gründe, sich für Frieden in der Ukraine einzusetzen: Sie hat Angehörige im Kriegsgebiet.
Vielfältige Ursachen
Kati Schneeberger engagiert sich ebenfalls aus emotionalem Antrieb: Sie ist in der DDR aufgewachsen und hat den Kalten Krieg am eigenen Leib erlebt. "Auch wenn die neuesten Entwicklungen schon mehr Bewusstsein und Betroffenheit ausgelöst haben, muss noch mehr darauf aufmerksam gemacht werden, was die russische Invasion in der Ukraine für die Menschen vor Ort, aber auch für uns in Österreich und im Rest Europas bedeutet. Auch die russischen Desinformationskampagnen in den sozialen Medien und Foren sind sehr stark. Hier muss Aufklärungsarbeit geleistet werden."
Gründe, warum die Friedensbewegung bis vor kurzem eher leise war, können auch in der Corona-Pandemie gefunden werden. Die Befürchtung, dass Friedensproteste angesichts der Corona-Demos untergehen könnten, lag nahe. Angst vor einer Ansteckung mit dem Virus auf einer Demo spielte ebenso eine Rolle wie der generelle psychische Zustand, in den Covid viele Menschen versetzt hat: Wer mit seinem eigenen Leben und Problemen hadert, hat weniger Energie, für andere auf die Straße zu gehen. Auch wäre die Beteiligung höher ausgefallen, gäbe es eine Nato-Beistandspflicht oder gar eine mögliche Beteiligung österreichischer Truppen an den Kampfhandlungen.
Ein weiterer Punkt: Die Proteste haben sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend in die virtuelle Welt verlagert - um Aufmerksamkeit zu bekommen, muss man heutzutage nicht mehr zwingend auf die Straße gehen. Zudem wird die Friedensbewegung immer älter, für junge Menschen hat etwa der Klimawandel höhere Priorität.
Wer dennoch für den Frieden demonstrieren will, hat aktuell viele Möglichkeiten: Fast täglich finden in Österreich Kundgebungen statt. Mit gutem Grund, wie Anna Pattermann sagt: "Die Welt hat nur mit demokratischen Werten eine Zukunft."