Gesetzt, ein Buch würde den Klimawandel als ein Phänomen beschreiben, das es ganz und gar nicht auf dem Planeten Erde gebe oder allenfalls in einer harmlosen Minimal-Variante, als ein Phänomen, das in der Öffentlichkeit maßlos überschätzt würde, und zwar auf das Betreiben einer ideologisch verschworenen, elitären Gruppe - nun: Man würde dieses Buch der Kategorie Schwurbelsachbuch zuordnen.
Der Literaturwissenschafter Adrian Daub, 1980 in Köln geboren und Professor für vergleichende Literaturwissenschaft in Stanford, hat rund 300 Seiten über Cancel Culture verfasst und ihr ein solches schimärenhaftes Wesen attestiert - und das, obwohl an der Existenz der Cancel Culture ebenso wenig zu rütteln ist wie an der des Klimawandels. Ob man nun an das jüngst gestrichene Wien-Konzert von Pantera denkt (Auslöser der Absage: Sänger Phil Anselmo hatte vor sieben Jahren den Hitlergruß gezeigt, Entschuldigungen für seinen "Scherz" halfen ihm nicht), ob man sich die geplatzten Auftritte verschiedener Reggae-Musiker aus dem Vorjahr in Erinnerung ruft (das "Delikt": Die Künstler waren hellhäutig und trugen Dreadlocks, was von linksaktivistischen Geistern neuerdings als "kulturelle Aneignung" gebrandmarkt wird): Der Mechanismus ist immer der gleiche. Wer dem rigiden Moralkodex einer Gesinnungsgemeinde zuwiderhandelt, die zwar nicht die Bevölkerungsmehrheit stellt, aber umso lauter und giftiger im Web agitiert, der läuft Gefahr, in Sozialen Medien und darüber hinaus rufmörderisch attackiert zu werden; der Angriff kann das Opfer nicht nur den guten Namen kosten, sondern auch Job und Einkommen.
Vertraute Schuldzuweisungen
So leicht ist es, das Kernprinzip des Cancelns zu beschreiben. Daub behauptet in seinem Buch allerdings das Gegenteil. "Cancel Culture" sei ein semantisch schwammiger Begriff, der irgendwie alles und nichts meine. Eine seltsame Behauptung. Sie passt aber trefflich zu Daubs Kernthese: Cancel Culture gebe es, wenn überhaupt, nur in Gestalt weniger Fälle, mit Sicherheit aber nicht in der landauf, landab alarmistisch geschilderten Drastik. Das sei eine Art Fata Morgana, ausgelöst durch eine "moralische Panik". Diese habe zuerst die USA, dann Europa erfasst und aus einer Mücke einen Elefanten gemacht. Es seien also nicht die tatsächlichen Geschehnisse das Problem, sondern ihre gesellschaftliche Wahrnehmung.
Nun ist es natürlich sinnvoll, Phänomene des gesellschaftlichen Lebens nicht wie Äpfel oder Birnen zu betrachten, sondern als soziale Konstrukte. Daubs Ansatz führt aber leider nicht zu erfrischenden, unverhofften Erkenntnissen, sondern vielmehr zur Reaktivierung eines sattsam bekannten Freund/Feind-Schemas: Daub verteidigt die Linken, indem er die "sogenannten" Fälle von Cancel Culture kleinschreibt; er attackiert andererseits eine konservative Elite, indem er ihr eine planvolle Übertreibung und Skandalisierung der Cancel-Anekdoten vorwirft (und ihr dabei ein Maß an Organisiertheit unterstellt, das an rechte Verschwörungstheorien erinnert). Gute Linke, böse Rechte: Das macht dieses Buch, trotz seiner geistreichen Formulierungen und spitzfindigen Argumentationen, letztlich so banal. Und unglaubwürdig. Das Bild des Forschers, der unvoreingenommen seines Weges geht, zerbröselt bereits nach wenigen Seiten. Schon im ersten Kapitel liest Daub einer vermeintlich reaktionären Presse im Alleingang die Leviten: Deutschsprachige Feuilletons, auch die "New York Times", würden mit Kanonen auf den "Spatz" Cancel Culture schießen. Das kann man so oder so sehen.
Daub erzielt hier immerhin einen Achtungserfolg, er verweist auf einen Widerspruch. Wie können all die Feuilletonisten behaupten, der Zeitgeist dulde ihre Liberalität nicht, und ihre Protestnoten doch unzensiert drucken lassen? Zudem: Daub gelingt es, mit peniblen Quellenrecherchen Zweifel an einer berüchtigten Cancel-Causa herzustellen.
Aussagen desavouieren
Zugleich entsteht aber der Eindruck, dass hier ein Thesengebäude ganz allgemein gegen lästige Zeugenaussagen immunisiert werden soll. Daub kultiviert subtil ein Klima der Skepsis, das dann jeden Erlebnisbericht nach "Anekdote" riechen lässt. Was dem Buch indes fehlt, sind schlagende Argumente. Etwa für eine weitere These: Die Empörung über Cancel Culture sei eine Reprise des Zanks um die Political Correctness - ein Phänomen, das heute kein vernünftiger Menschen mehr in Frage stellen würde, suggeriert Daub. Ein Nebensatz, der sich bezweifeln lässt. Vor allem aber kann man entgegnen: Stimmt natürlich, dass beide Konflikte Parallelen bergen; das beraubt die zweite Debatte aber nicht automatisch ihrer Relevanz.
Bemerkenswert nicht zuletzt, was Daub den Gegnern der Cancel Culture alles unterstellt. Es gipfelt in der These, diesen Kritikern ginge es in erster Linie gar nicht um Meinungsfreiheit: Ihr Gezeter solle vielmehr Sand in das Getriebe des Fortschritts streuen, es sei ein Störfeuer, um das berechtige Vorankommen aktivistischer, linker Anliegen zu hemmen. Nun ja: Diese These wirkt doch recht konstruiert. Was Daub über die moralische Verfasstheit von Cancel-Culture-Kritikern denkt, das steckt er dafür in eine grobe Pointe: "Die Angst vor Cancel Culture ist #MeToo für Menschen, die vor #MeToo Angst haben."