Singe mir, Muse, das Lied des radierenden Gummis, des edlen / Helfer der Dichter, wenn Mist sie gebaut, denn er tilget / Schwachsinn und Dreck, nicht zu sagen, erlaube der Leser das Wort, so / hart es auch sein mag, die Scheiße, die manchmal verströmten / Gar selbst die Großen wie Goethe und Co. Der Radiergummi ist, ja, / Leser, gestatte das Preislied, die größte Erfindung der Menschheit. / So ist denn heute der Tag des Radiergummis. Feiert ihn, Leser!

Oha, das war wohl . . . - Trojanisches Pferd, Sirenengesang und das Lied der teppichwebenden Frau wird daraus wohl nicht. Weg damit. Und kein Radiergummi zur Hand, der ohnedies unnütz wäre in diesen computergestützten Zeiten. Da hilft nur der Weg in die beste Grafik- und Layoutabteilung von allen, die nämlich der "Wiener Zeitung", und fragen, ob man da was machen kann.

"Löschtaste . . . ?"

Hexameter löschen? Ganz und gar? - Na, dann kann man vielleicht so tun, als ob radiert worden wäre.

Na bitte. Aber im Internet wird man das vielleicht nicht sehen? Dann gleich ganz weg, oder nicht? Menschenskind, erfindet jemand endlich einmal einen Internetradiergummi? Oder etwas, das so tut, als ob es ein Internetradiergummi wäre?

Kautschuk und Knetmasse

Wobei: Löschen. Auslöschen. Das ist so eine Sache. Aber davon später.

Zuerst der Radiergummi selbst. Man kennt ihn ja, das gute Stück: Zweifärbig meist, ziegelrot oder farblos für den Bleistift und blau für Tinte. Eher hart kommt der Radiergummi daher, alles löschend, oder ganz elastisch. Verschmiert er auch nicht?

Apropos verschmieren: Zeichenunterricht in der Mittelschule. Einen Baum im Park abzeichnen. Ja, eh, ein Strichmännchen geht gerade noch. Der zeichnerisch minderbegabte Schüler verzagt. Was soll er tun? Ist doch egal, was er nicht kann, kann er nicht. Schnell wirft er, sich der Aufgabe des Lehrers frech widersetzend, mit einem Bleistift, Härtegrad zwei, ein baumartiges Gekritzel aufs Papier und fährt mit dem Radiergummi (welch Glück, es ist ein verschmierender!) darüber. Bei der Benotung ist der Lehrer hellauf begeistert. Redet etwas von Mut und Idee und freimachen vom konkreten Modell und so, obwohl das nicht die Aufgabenstellung war, dennoch . . . - gibt es ein Sehrgut. Und da soll der Schüler nicht zum Apologeten des Radiergummis werden und ihm dereinst ein Hexameter-Epos zudenken wollen?

Der Radiergummi ist eine Erfindung aus dem Jahr 1770 - ausgerechnet aus dem Geburtsjahr des Komponisten, der mit gründlichem Auskratzen in die Anekdoten einging. Ludwig van Beethoven also hätte doch tatsächlich die Erfindung des Briten Edward Nairne nützen können, um Napoleons Namen von der Titelseite der "Eroica" zu tilgen. Er kratzte ihn aber aus.

Das Prinzip des Radierers ist simpel: Beim Schreiben oder Zeichnen mit dem Bleistift, der in Wahrheit ein Graphitstift ist, trägt man auf das Papier Graphitbestandteile auf. Nairne entdeckte nun, dass diese Graphitbestandteile auf Kautschuk besser haften als auf Papier. Ergo kann Kautschuk zum Ausradieren von Graphit verwendet werden.

Heutzutage verwendet man zur Herstellung von Radiergummis auch diverse Kunststoffe, man bekommt auch Radierer, die sich anfühlen und gebärden wie Knetmasse. Faber-Castell, Herlitz und Läufer sind die Hersteller von Radiergummis, die bei Warentests die Nase vorn haben. Die Zusammensetzung des Materials ist dabei gleichgültig, solange nur die Adhäsionskraft zwischen Graphit und Radiermasse größer ist als die zwischen Graphit und Papier.

Der Tintenradierer hingegen kratzt die Tintenbestandteile vom Papier ab. Da ist dann zwischen dem kleinen Kevin, der "Betthoven" geschrieben und es rechtzeitig bemerkt hat, und Beethoven, der Napoleon geschrieben und es etwas verspätet bemerkt hat, gar kein so großer Unterschied.

So viel zum Radiergummi selbst.

Auf einem anderen Blatt stehen seine Auswirkungen. Fehler tilgen - das ist der Segen des Radiergummis, aber es ist auch sein Fluch.

Löschen - auslöschen

"Ausradieren": Allein das Wort lässt erzittern. Was hat man in der Geschichte nicht alles ausradiert. Falsche Buchstaben, falsche Zahlen, falsche Noten, gewiss, aber auch Erinnerungen. Menschen. Völker.

Ausradieren bedeutet auslöschen. Das Durchgestrichene bleibt lesbar. Das Ausradierte ist verloren.

So führt ein gerader Weg vom Radiergummi zur Gretchenfrage des Homo sapiens: Wie hältst Du’s mit den Fehlern? Denn nichts hat den Menschen weiter gebracht als Fehler - die Menschheit insgesamt ebenso wie den Menschen als Individuum. Der Fehler ist der beste Lehrmeister überhaupt. Das gilt übrigens nicht nur für Menschen, sondern auch für eine große Zahl von Tierarten, die ihr Verhalten aus Fehlern lernen. Allerdings ist der Mensch meistens so eitel, dass er die Fehler nicht zugeben mag.

Lieber radiert er sie aus.

Wie oft sieht man Porträtfotografien von Künstlern, etwa von Komponisten: Der Meister über dem Notenblatt brütend, den Bleistift in der Hand: cis oder c? Nur Mut, der rettende Radiergummi liegt griffbereit, die Fähigkeit zur Einsicht symbolisierend.

Doch was gäbe die musikforschende Nachwelt darum zu wissen, welche Noten dem Radiergummi zum Opfer gefallen sind. Versuch und Irrtum auch bei Genies? Nur Wolfgang Amadeus Mozart korrigierte nicht. Er komponierte seine Stücke im Kopf fertig und schrieb sie danach einfach (einfach . . !) nur noch auf. Beethoven korrigierte und korrigierte, und doch ist er harmlos im Vergleich zu seinem tschechischen Komponistenkollegen Leoš Janáček, dessen Manuskripte kaum zu entziffern sind.

Vom englischen Komponisten Benjamin Britten weiß man, dass er mit Bleistiften schrieb, die am stumpfen Ende einen Radiergummi hatten. Er muss mit beiden Enden flink gewesen sein: Seine Assistentin Imogen Holst berichtete, dass er schneller komponierte, als sie mit dem Kopieren nachkam.

Welche Dichter mögen wohl welche Wörter, welche Zeichner welche Striche ausradiert haben? Für immer verloren. Oder für immer in die einzige Form gebracht, welche die Nachwelt etwas angeht.

Zeichnen ohne Radiergummi

Nämlich: Es ist kein Fehler, Fehler zu korrigieren - wenn es denn möglich ist. "Das Leben ist ein Zeichnen ohne die Korrekturmöglichkeiten des Radiergummis", sagte der österreichische Maler Oskar Kokoschka. Die sonst so klugen Römer wollten ihre Übeltäter mittels der damnatio memoriae, der Verbannung aus dem Gedächtnis, ausradieren, indem sie alles, was Zeugnis über sie ablegt, unterdrücken und beseitigen.

Doch das war ein Fehler - nicht nur, weil es ohnedies nie ganz gelungen ist. Vielmehr ist es so: Wer hunderte, tausende Warnungen in den Wind schlägt und einen Fehler begeht, den er vermeiden könnte, wer mit Absicht und wider besseren Rat zerstört und vernichtet, der soll auch mit seinem Zerstörungs- und Vernichtungswerk in den Annalen stehen als Erinnerung und zur Warnung für spätere Generationen.

Der Gebrauch des Radiergummis will gut überlegt sein - und der Tag des Radiergummis, so kurios er sich ausnimmt, der Moment, da man überlegt, was radieren und ausradieren bedeutet.

Im Idealfall ist es ein falsches Wort, eine falsche Note, eine falsche Linie. Glücklich die Zeit, in der es dabei bleibt.