Ostern und Weihnachten fällt ja kaum je auf Pfingsten. Käme es vor, könnte man die Gefühle der Plagiatsjäger am heutigen 26. April nachempfinden. Der nämlich ist der Tag des geistigen Eigentums, und das geistige Eigentum ist die Basis von dessen Verletzung, des Plagiats.
Nahezu pünktlich zum Plagiatsfeiertag, konkret: seit Montag, läuft in New York der Prozess gegen Ed Sheeran. Der Singer-Songwriter soll in seinem Hit "Thinking Out Loud" beim Soulklassiker "Lets Get It On" von Marvin Gaye abgekupfert haben. Vom einträglichen Geschäft mit Plagiatsvorwürfen wird später die Rede sein.
Zuerst ein Text aus dem österreichischen Bundesgesetz über das Urheberrecht: "§ 1/1: Werke im Sinne dieses Gesetzes sind eigentümliche geistige Schöpfungen auf den Gebieten der Literatur, der Tonkunst, der bildenden Künste und der Filmkunst.
§ 1/2: Ein Werk genießt als Ganzes und in seinen Teilen urheberrechtlichen Schutz nach den Vorschriften dieses Gesetzes."
Der Fluch der Gleichzeitigkeiten
Was, bitte, ist daran so unklar, dass man dagegen verstoßen kann? Oder sollten böse Buben (und Mädchen übrigens auch) es gar darauf anlegen? Weil die Ideen und Künste anderer besser sind als die eigenen? Manchmal spielt der Zufall eine Rolle.
In der Kunst verschwimmen die Grenzen ohnedies, was geistiges Eigentum ist, was Nachahmung und was bewusster Diebstahl. Doch auch bei technischen Erfindungen ist vieles unklarer, als es in der ersten Erinnerung an das Schulwissen scheint.
Beispielsweise ist der Erfinder des Telefons zweifellos Alexander Graham Bell. Wirklich "zweifellos"? Elisha Gray wollte sein Telefon am exakt gleichen Tag, dem 14. Februar 1876, patentieren lassen wie Bell. Bell war lediglich um ein paar Stunden früher dran und erhielt deshalb das Patent.
In der Fachsprache heißen solche gleichzeitigen Erfindungen und Entdeckungen "Multiples". Sie sind häufiger, als man glaubt. Sauerstoff wurde im 18. Jahrhundert von Carl Wilhelm Scheele, Joseph Priestley, Antoine Lavoisier entdeckt, Charles Darwin und Alfred Russel Wallace entwickelten unabhängig voneinander die Evolutionstheorie. Carl Benz meldete am 29. Januar 1886 seinen "Motorwagen" zum Patent an, während, davon unabhängig, Gottlieb Daimler und der Österreicher Siegfried Marcus ihre Automobile entwickelt hatten. Ein Paradefall ist der des ersten Motorflugs: Er wird Wilbur und Orville Wright zugeschrieben. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass der Deutsche Gustav Weißkopf dem US-amerikanischen Brüderpaar um rund zwei Jahre zuvorgekommen ist, seinen Flug allerdings, anders als die Wrights, nicht fotografisch dokumentierte.
Verschiedene Erfindungen und Entdeckungen liegen offenbar in der Luft, wenn die Menschen einen quasi gemeinsamen Wissens- und Erfahrungsschatz erworben haben, der von den besten Köpfen naturgemäß weitergedacht wird.
Gilt das auch für Künstler? - Jedenfalls gerieten über die Erfindung des Zwölftonsystems Arnold Schönberg und Josef Matthias Hauer einander in die Haare. Dabei wollten beide die Welt der Musik mit ihrem System missionieren. Es ging also nicht um einen geistigen Besitz, sondern nur darum, wer der Erste war.
Ein geistiger Besitz kann in der Musik auch nie eine Kompositionstechnik sein, sondern nur ein Thema oder eine Melodie. Rein rechnerisch gibt es für die Anordnung der Töne einer simplen Dur- oder Moll-Tonleiter 5.040 Möglichkeiten. Da es über die Jahrhunderte, in denen Musik geschrieben wurde, mehr als 5.040 Kompositionen gegeben hat, muss es zwangsläufig zu gleichen Tonfolgen gekommen sein.
Der gewisse Verdacht
Oha! - Milchmädchenrechnungsalarm! Da sind Tonwiederholungen, tonartfremde Töne, Oktavversetzungen und Tondauern nicht miteingeschlossen. Kommt das dazu, sind die Möglichkeiten der Themen- und Melodiebildung unbegrenzt. Was wiederum heißt: Ähneln einander zwei, liegt der gewisse Verdacht in der Luft.
"Gestohlen", sagte der Komponist und Dirigent Leonard Bernstein einmal, "haben alle. Aber die Großen haben genial gestohlen." Zum Beispiel das Erlösungsmotiv aus Richard Wagners "Ring des Nibelungen", das in der "West Side Story" passend auf die Worte "I have a love" gesungen wird. Bernsteins Idol Gustav Mahler bediente sich für den Anfang seiner Dritten Sinfonie bei Johannes Brahms Erster, im zweiten der "Kindertotenlieder" bei Giuseppe Verdis "Aida", im vierten der "Lieder eines fahrenden Gesellen" beim Trauermarsch aus Gaëtano Donizettis "Dom Sebastien" - und das sind nur einige Beispiele.
Mag es nicht auch sein, dass Mahler und Bernstein, die Dirigenten, mitunter zwischen eigenem Einfall und der Erinnerung an eine von ihnen aufgeführte Musik nicht unterscheiden konnten?
Heute sieht die Verletzung geistigen Eigentums, und vor allem deren Verfolgung, anders aus. Mit Unterstützung von Computerprogrammen machen sich Plagiatsjäger auf die Pirsch, ob nicht irgendein Prominenter, zumal ein Politiker, sich mit fremden Federn geschmückt hat. So traf es in Deutschland die SPD-Politikerin und damalige Familienministerin Franziska Giffey, die ehemalige CDU-Bildungsministerin Annette Schavan und den Ex-CSU-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, in Österreich die ehemalige ÖVP-Arbeitsministerin Christine Aschbacher.
Geht es bei solchen Affären im politischen Leben Deutschlands und Österreichs um Moralverletzungen, denen reuevolle Rücktritte folgten, können sie sich in der US-amerikanischen Kunstszene zum Geschäft entwickeln. Rock- und Pop-Musik greifen auf ein verhältnismäßig beschränktes Reservoir harmonischer und melodischer Muster zurück. Es ist wie bei der Musik des Barock, wo Georg Friedrich Händel und Henry Purcell oder Antonio Vivaldi und Arcangelo Corelli (um nur Protagonisten zu nennen) gleiche Mustern bemühten. Nahezu zwangsläufig sind Ähnlichkeiten das Resultat. Im lukrativen Pop-Bereich landen die dann als behauptetes Plagiat, in der Hoffnung auf sechs- bis siebenstellige Zahlungen als Schadenersatz wegen Urheberrechtsverletzung oder Beteiligung an den Tantiemen, vor Gericht. Mitunter trifft es auch Texte, die in dieser schnelllebigen Branche halt ebenfalls mit Stereotypen arbeiten.
Derzeit also muss sich Ed Sheeran einem Verfahren stellen. Bitter, gewiss, aber er ist in guter Gesellschaft.
Ganz klar: ein Plagiat!
"Blurred Lines", geschrieben von einem Team rund um Pharrell Williams, ist als Plagiat von Marvin Gayes "Got To Give It Up" eingestuft worden. Die Band Spirit, eine Fußnote der Musikgeschichte, behauptet, ihr Lied "Taurus" sei für die Led-Zeppelin-Ballade "Stairway To Heaven" Pate gestanden. Und US-Star Katy Perry hat 2019 gegen einen Rapper namens Flame den Kürzeren gezogen. Das Gericht entschied, dass sich ihr "Dark Horse" bei seinem "Joyful Noise" bedient hätte, und sprach ihm 2,8 Millionen Dollar zu. Es nimmt nicht wunder, dass Perry in Berufung ging: Beide Nummern wummern vage dahin. Nur ein kurzes, wiederholtes Ornament scheint sie zu verbinden: eine abfallende Notenfolge, die der Synthesizer düdelt. Haargleich hört sich die Passage im Vergleich aber nicht an.
Und der ganze vorige Absatz ist auch eines, ein Plagiat nämlich: Wort für Wort abgekupfert vom "Wiener Zeitung"-Feuilletonkollegen Christoph Irrgeher, der sich vor drei Jahren mit dem Thema beschäftigt hat.
Man muss eben nur wissen, bei wem man sich bedient. Da sind die Besten gerade gut genug. Der Tag des geistigen Eigentums - sollte er insgeheim gar der Tag der geklauten Ideen sein?