Zugegeben: Wenn in der ORF-Sendung "Bürgeranwalt" ein Anrainer gegen eine Verkehrsader zu Felde zieht, hält sich der Nervenkitzel in Grenzen. Trägt ein Lärmopfer jedoch einen großen Namen und fand sein Streitfall in einer illustren Welt von gestern statt, sieht die Sache anders aus. Kai-Ove Kesslers Buch "Die Welt ist laut - Eine Geschichte des Lärms" wimmelt vor solchen Fällen. Da erfährt man etwas, dass Johann Wolfgang von Goethe nicht nur Autor, Naturforscher und Geheimrat war, sondern auch Anrainer. Stein des Anstoßes für ihn: das infernalische Geklapper von Webstühlen, die ein benachbarter Leinenweber in Weimar betrieb. Der Dichterfürst führte einen erbitterten Kampf gegen die Lärmbelästigung der Frühindustrialisierung, musste sich trotz seines Prestiges und Einflusses allerdings geschlagen geben. Ein anderer Lärmgegner: Arthur Schopenhauer. Schon das Werkzeug des Kutschers war ihm ein Gräuel: "Ich möchte wissen, wie viele große und schöne Gedanken diese Peitschen schon aus der Welt geknallt haben", vermerkte er und zürnte ganz allgemein dem Krach des einfachen Volkes: Lärm, so seine nicht ganz unarrogante These, sei die Waffe des Handarbeiters im Krieg mit den Kopfarbeitern.
Krähte der Dinosaurier?
Wie laut war und ist die Weltgeschichte? Wo lagen ihre Dezibelspitzen, wo die beschaulicheren Phasen? Kai-Ove Kessler, Journalist, Historiker und Musiker, widmet sich dem flüchtigen Phänomen Klang vom Anbeginn der Zeiten an, startet also mit dem Urknall (der entgegen seinem Namen natürlich geräuschlos im Vakuum ablief). Kessler hangelt sich nicht wie ein routinierter Geschichtslehrer durch die Jahrhunderte, sondern als pfiffiger Erzähler mit einem Instinkt für Pointen: Hatte der Tyrannosaurus Rex womöglich wie ein Hahn gekräht? Immerhin war der Dinosaurier ein Verwandter des Vogels, er brüllte wohl jedenfalls nicht so blockbustermäßig wie in "Jurassic Park". Ein hübsches Fundstück auch ein Detail aus Pompeji. Vor dem abrupten Ende dürfte die Wirtschaft in der Kurstadt durchaus lautstark gebrummt haben. Jedenfalls hat der Ausbruch des Vesuv eine Beschwerde für die Ewigkeit konserviert: Ein gewisser Macerior, Bewohner der Via Stabiana, bat die Polizei, die Leute vom Lärmen auf den Straßen abzuhalten.
Weitaus lauter ging es damals natürlich in der Weltstadt Rom zu: Die Wagenrennen im Circus Maximus bescherten angeblich bis zu 250.000 Besuchern Verzückungsschauer - und den Geistesarbeitern, die in der Gegend schrieben, Ekelzustände. "Das Geschrei dröhnt mir in den Ohren!", stöhnte Juvenal in seinen Satiren über den "Pöbel".
Um wie viel besser hätte ihm die Lautstärke des Mittelalters gefallen: Die Stadt schrumpfte, und damit auch der Schallpegel. Gleichwohl war die Luft mit Signalgeräuschen erfüllt. Kaum jemand konnte lesen, also rührten Ausrufer für ihre Produkte die Werbetrommel, kündeten Kirchenglocken die Uhrzeit; Gerichtsprozesse und grausame Exekutionen - Letztere waren die zugkräftigen Open-Air-Events des Zeitalters - fanden mit viel Jubel und Trubel statt.
Mit der Neuzeit kam dann endlich wieder Leben in den mitteleuropäischen Erfindergeist und damit mehr Lärm auf. Der Buchdruck hob den Bildungsstand an und ermöglichte in weiterer Folge das Aufkommen der Tageszeitungen (schön, dass Kessler die "Wiener Zeitung" in diesem Zusammenhang als älteste noch erscheinende Tageszeitung der Welt würdigt - nur stimmt diese Faktum bloß noch bis zum 30. Juni). Eine Sternstunde ist natürlich die Erfindung der Dampfmaschine, jener Alleskönner, der in Fabriken, Manufakturen und später auch in Eisen- und Untergrundbahnen dröhnte und ratterte.
Eine andere Lärmquelle wurde der wachsende Verkehr: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts prangte in den Straßen ein Wimmelbild aus Kutschen, Fuhrwerken, Pferde-Omnibussen und Dampfmobilen - eine Kakophonie wegen der Hufeisen an den Pferden, den Metallbeschlägen an den Rädern und dem Kopfsteinpflaster der Straßen.
Tanken in der Apotheke
Das 20. Jahrhundert linderte dieses Geratter durch Gummireifen und Asphalt, brachte dafür aber eine neue Lärmquelle in Pole Position - den Benzinmotor. Eine charmante Anekdote erzählt, dass sich der Erfolg des Automobils nicht nur Männerhänden verdankte: Bertha Benz, Ehefrau des Konstrukteurs Carl, packte ihre zwei Kinder ohne Wissen des Gatten in dessen Erfindung und begab sich auf die erste Langstreckenfahrt der Geschichte - 108 Kilometer, auf denen sie notdürftig in einer Apotheke "tankte" und einen Defekt mit der Hutnadel repariert. Das Match zwischen Auto, Dampfwagen und Elektromobil ging übrigens interessanterweise und erst nach dem Ersten Weltkrieg zugunsten des Klimasünders aus; der Flugzeuglärm erobert den Himmel dann nach dem Zweiten Weltkrieg (dem ebenso ein Kapitel gewidmet ist wie einigen anderen Kriegen).
Und heute? Trotz Bluetooth-Box und Co. lautet Kesslers Befund: Wir leben nicht in den lautesten aller Zeiten. "Der brutale Lärm der Vergangenheit ist vielfach subtilen Alltagsgeräuschen gewichen." Hohe Schallpegel gelten nicht mehr als unvermeidliches Nebengeräusch des Fortschritts, sie sind als Krankheitsquelle anerkannt und werden (zumindest mehr oder minder erfolgreich) bekämpft. Ganz verstummen wird das Getöse aber natürlich nie, so lange es Menschen gibt. Denn Lärm bedeutet immer auch: Leben.