Er bezeichnete sich selbst als "größter Solotänzer der Geschichte", seine Bewunderer nannten ihn "Tanzgott". Rudolf Nurejew (1938-1993) gilt unumstritten als Galionsfigur des Tanzes - gefeiert und gehuldigt. Sein "Schwanensee", den er 1964 für das Wiener Staatsopernballett kreierte, feiert nun am Sonntag Premiere. Die ehemalige Erste Solistin des Staatsopernballetts, Susanne Kirnbauer-Bundy, ist nicht nur eine Zeitzeugin von Nurejews Arbeit in Wien, sie lernte ihn auch von seiner menschlichen Seite kennen, weit entfernt von seinem "göttlichen" Tanzdasein.
"Wiener Zeitung":Was waren die Beweggründe für Nurejew, "Schwanensee" für das Staatsopernballett zu choreografieren?
Susanne Kirnbauer-Bundy: Es war die Anfrage von Ballettdirektor Aurel von Milos, einen abendfüllenden "Schwanensee" auf den Spielplan zu setzen. Ganz neu war er ja nicht, basiert er doch auf Petipa und Iwanow. Das Wichtigste für Rudolf Nurejew war, seine Prinzenrolle aufzuwerten. Vielleicht hat das Margot Fonteyn gar nicht so gepasst. Das war eine bisschen schwierige Zusammenarbeit mit den beiden.
Inwiefern?
Auch wenn man ihn heute euphorisch feiert, war er doch während der Proben ziemlich ekelhaft. Er hatte einen harschen Ton mit Fonteyn, aber auch mit dem Ensemble. Jene, die er mochte, waren davon nicht betroffen.
Und wen mochte er?
Jene, die überdimensional fleißig waren. Nurejew hat sich mit seinem Körper geplagt, und ich mich mit meinem auch. Im Gegensatz zu jenen, denen alle körperlichen Voraussetzungen für Ballett in die Wiege gelegt wurden. Wir hatten eine unglaublich gute Verbindung, und er hat mich gefördert, dass mehr nicht möglich gewesen wäre.
Wie hat er Sie gefördert?
Ich hab damals in der solistischen Gruppe hüpfen dürfen, also auch im Pas de Cinq von "Schwanensee". Ich sagte ihm erschöpft von den Proben: "I am so sorry, I cant do it again" und er meinte nur: "Do it." Nicht auszutanzen oder nur Schritte zu markieren, ging gar nicht. Zuvor war es üblich, vor allem wenn wir am Abend noch Vorstellung hatten. Er hat sich ausgetobt, manche mit "bloody cow" beschimpft. Er war schon heftig. Auf der anderen Seite konnte er entzückend sein.
Zum Beispiel?
Ich trage die Erinnerung noch immer an mir: das Cut. Im "Schwanensee" mussten wir eine Polonaise tanzen, bei der mit Weinbechern angestoßen wurde. Bei den Proben waren diese aus Zinn. Ein Becher erwischte mich an der Schläfe, die Haut platzte und das Blut floss über mein Gesicht. Tapfer versuchte ich weiterzutanzen, bis es nicht mehr ging. Nurejew erlöste mich mit einem "Stopp", nahm sein Handtuch und tupfte mir behutsam das Gesicht ab. Er schickte mich ins Spital. Sein Handtuch habe ich heute noch. Genau, wo Sie sitzen, ist er auch gesessen (lacht).
Wie kam er denn auf Ihre Couch?
Ich hab meinem Mann von Nurejew erzählt, und er meinte, ich solle ihn doch nach Hause einladen. Ich bin tagelang um ihn herumgeschlichen, um den richtigen Moment zu finden. Irgendwann habe ich dann Mut gefasst. Er sagte nur: "Yes, of course". Und ich hab Herzklopfen gehabt! Ich lud einen kleinen Kreis an Kollegen ein, er wünschte sich Beef Tartare und Weißwein mit Wasser. Er war bis 4 Uhr morgens da, und es war so ein entzückender Abend. Das war auch er, so wie viele Kleinigkeiten,die ich mit ihm erlebte, die zeigten, dass er ein Mensch war.
Wie zeigte sich sein "Menschsein"?
Auf der Japan-Tournee etwa: Er war nicht mehr der Jüngste. Er tanzte mit einem Leichtgewicht von Ballerina, um sich bei den Hebungen nicht zu überanstrengen. Sein Riesen-Solo bekam er kaum mehr hin. Niemand stand mehr in den Gassen, um ihn zu bewundern. Früher brüllte die Feuerwehr immer, weil alles hinter der Bühne überfüllt war, denn jeder wollte ihn sehen. In Japan war ich die Einzige, und er drehte ständig den Kopf, sah zu mir herüber, ob ich eh noch da war. Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. Als er mich einmal fragte, ob er was falsch mache, dachte ich mir nur: "Was soll ich ihm sagen? Ich, als Corps-de-ballet-Tänzerin." Ich hab mir einfach etwas ausgedacht. Und ich wollte von ihm wissen, warum er nicht seine Freunde, Tänzer und Trainer fragte. Er sagte: "They are all liars. Tell me the truth." Es ist jeder vor ihm gekniet, aber er wollte nur ehrliche Kritik hören. Einmal ist das Licht ausgefallen, da war er auch nicht mehr jung, es gab nur die Notbeleuchtung und das Orchester hatte aufgehört zu spielen. Nurejew hat sein Solo schwer atmend weitergetanzt. Und ein Kollege meinte: "Na warum hört er net auf? Dann könnte der Vorhang fallen!" Ich sagte nur: "Nach der Vorstellung kriegst eine Watsche." Die hab ich ihm dann auch gegeben. Zwar erst, bevor ich in Pension gegangen bin, aber immerhin. Denn ich fand das so unerhört, denn es wareines meiner größten Erlebnisse auf der Bühne. Dass ein Mensch das so durchstehen konnte!
Sind junge Tänzer heute noch an dem Mythos Nurejew interessiert?
Ja, ich werde oft nach meinen Erfahrungen befragt. Nurejew war eine unglaubliche Persönlichkeit. Wenn er vor seiner Variation den Kreis gelaufen ist, dann hat er mit den Zähnen geschnattert. Wie ein kleines Tier, ein Pantherlein. Zum Fressen süß. Von den Videos sind die jungen Tänzer nicht so begeistert, und ich sage ihnen immer: Ihr dürft das nicht vergleichen, denn die Technik hat sich weiterentwickelt. Aber die Persönlichkeit ist unvergleichbar, die kann man nicht erlernen. Wenn man an den heutigen Tänzern etwas bekritteln möchte, dann vielleicht das.
Was macht die Faszination "Schwanensee" aus?
Wenn 24 Mädels in weißen Tütüs sich picobello gleich bewegen, so hat das schon eine gewisse Faszination. Auch für Nicht-Ballett-Fans. Und die Musik von Tschaikowski ist einmalig, ohne sie wäre "Schwanensee" nicht "Schwanensee".