Als am Sonntag die ersten Nachrichten publik wurden, dass es sich bei dem Attentäter von Orlando um einen Moslem handele, drängte sich die Erklärung für den Mord an 49 Besuchern eines Gay-Clubs geradezu auf: islamische Homophobie. Und tatsächlich geben die Nachrichten der letzten Jahre allerhand Anlass zu glauben, dass viele Muslime ein Problem mit Homosexuellen haben: Im Iran hängen die Körper von Homosexuellen an Baukränen, in Saudi-Arabien schlagen Religionswächter Schwulen die Köpfe ab und in Syrien stürzt der selbsternannte Islamische Staat Homosexuelle aus Hochhäusern. Wahrscheinlich dürfte es in der ganzen islamischen Welt kaum einen Ort geben, an denen Homosexuelle offen ihre Liebe praktizieren können, ohne die ein oder andere Art von Verfolgung und Diskriminierung befürchten zu müssen.
Doch die Gleichung "Islam = Homophobie" geht dennoch nicht auf. Denn so sehr Islamisten heute Homosexualität verteufeln, so selbstverständlich war gleichgeschlechtliche Liebe jahrhundertelang in der islamischen Welt. Und so sehr Homophobie heute aus westlicher Sicht als typisch islamisches Problem gilt, so neu ist das Phänomen in der islamischen Welt.
Wer wissen will, wie unverklemmt Muslime jahrhundertelang mit der Liebe zum eigenen Geschlecht umgegangen sind, braucht nur eine islamwissenschaftliche Bibliothek zu besuchen. Tausende Bände osmanischer, persischer und arabischer Liebeslyrik zelebrieren die Lust am gleichen Geschlecht. Wahrscheinlich dürfte keine andere Kultur eine solche Vielfalt an homoerotischer Literatur hervorgebracht haben wie die islamische.
Verse über Männerkörper
Der persische Dichter Rumi, dessen Leben momentan mit Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle von Hollywood verfilmt wird, schwelgte nicht nur in seinen Gedichten in homoerotischen Fantasien, er lebte diese auch - gesellschaftlich völlig akzeptiert - in seinem Privatleben aus. Auch die Werke des berühmtesten persischen Dichters sind voller Verse über gut gebaute Männerkörper: Hafiz, jener Lyriker, der Johann Wolfgang von Goethe zum West-östlichen Diwan inspirierte.
Wenn heutige Islamisten vorgeben, sich auf die Zeit der ersten islamischen Kalifen zu berufen, sollten sie vielleicht erst einmal lesen, was der berühmteste Dichter der arabischen Welt, Abu Nuwas, im 9. Jahrhundert über seine Geschlechtsgenossen schrieb: "Im Bade wird dir das sonst durch die Hosen Verborgene sichtbar. Auf zum Betrachten! Gucke mit nicht abgelenkten Augen! Du siehst einen Hintern, der (durch seine Fülle) einen Rücken von äußerster Schlankheit in den Schatten stellt. Sie flüstern sich gegenseitig: Gott ist groß und Es gibt keinen Gott außer Allah zu."
Für Rumi, Hafiz und Abu Nuwas und hunderte andere Lyriker gehörten homoerotische Verse so selbstverständlich zu ihrer Dichtkunst, weil homoerotische Beziehungen in der islamischen Welt des 8. bis 18. Jahrhunderts in einem Maße akzeptiert waren, von dem Mann im christlichen Abendland nur träumen konnte.
Während im Europa jener Zeit Literatur, die gegen die restriktive Sexualmoral der katholischen Kirche widersprach, auf den Index gesetzt wurde und Schwule verbrannt wurden, erklärten islamische Gelehrte die Zuneigung zum eigenen Geschlecht zur natürlichen Begierde. Anders als wie im Westen üblich, die Welt in Homosexuelle und Heterosexuelle einzuteilen, gingen sie davon aus, dass die Begierde des eigenen Geschlechts zu jedem Menschen dazu gehört. Nach Hinweisen auf eine Zweiteilung der Sexualität in Homo und Hetero sucht man in der islamischen Geschichte jahrhundertelang vergebens.
Zwar verbot auch der Koran Analsex, strafrechtliche Konsequenzen hatte das allerdings in den seltensten Fällen. Nicht zuletzt auch wegen der hohen verfahrenstechnischen Hürden, die das islamische Recht in solchen Fällen vorgab. Indizienprozesse gab es nicht. Stattdessen mussten mindestens vier männliche Augenzeugen beim Geschlechtsakt anwesend sein - die zusätzlich oft einen bestimmten gesellschaftlichen Status innehaben müssen. Außerdem drohen ihnen bei Falschaussage selbst hohe Strafen.
In der Praxis waren Verurteilungen wegen Analsex nahezu ausgeschlossen. Steinigungen, wie sie heutige selbsternannte islamische Fundamentalisten fordern, hat es vor dem 18. Jahrhundert wahrscheinlich überhaupt nicht gegeben.
Lasterhafte Klischees
Noch unkomplizierter dürfte die Sache übrigens für Lesben gewesen sein. Den Koran sowie islamische Rechtsgelehrte interessierte es einfach nicht, was Frauen untereinander machten. Zumindest in dieser Hinsicht hatte das patriarchalische Gesellschaftsverständnis in der islamischen Welt auch seinen Vorteil.
Ähnlich wie heute rankten sich auch im Europa der Vormoderne allerlei Klischees um das Thema Islam und Homosexualität. Nur der Unterschied zu heutigen Feindbilder könnte größer nicht sein. Massenhaft brachten europäische Orientreisende Geschichten über sexuelle Lasterhaftigkeit mit zurück ins christlich-verklemmte Abendland. Der Muslim jener Tage galt im christlichen Europa nicht als homophob, sondern als freizügig, sexuell enthemmt und schwul.