
New York/Wien. Die lauteste Stimme gegen das Vergessen ist verstummt. Familienangehörige, Freunde und Weggefährten versammelten sich vor der Synagoge in der New Yorker Fifth Avenue, um von Elie Wiesel Abschied zu nehmen, der am 2. Juli 2016 in New York City gestorben ist. Rabbi Perry Berkowitz sprach von einem doppelten Verlust, denn die Welt habe nicht nur einen einzigartigen und ungewöhnlichen Menschen verloren, sondern auch einen Holocaust-Überlebenden - und sie würden nun allmählich alle wegsterben.
Doch Elie Wiesel war mehr als ein Holocaust-Überlebender: Er war es, der den Holocaust-Überlebenden eine Stimme gab, der das Erinnern verkörperte und tief in das Bewusstsein der Welt einsenkte durch seine schriftstellerische Arbeit, durch seine Aktivitäten. 1986 wurde ihm der Friedensnobelpreis zuerkannt, der ihm zusätzliches Gewicht verlieh.
Wider die Verdrängung
Wiesel war personifiziertes Gewissen. Sein bedeutendes schriftstellerisches Werk wird dabei allzu leicht übersehen: Die Trilogie "Die Nacht", "Morgendämmerung" und "Tag" schlägt einen autobiografischen Bogen von der Hölle des KZs zum Leben in Palästina. Im "Bettler von Jerusalem" schildert der talmudisch bewanderte Wiesel die Problematik, Talmud und reales Leben in Einklang zu bringen. Im "Testament eines ermordeten jüdischen Dichters" schildert Wiesel den Antisemitismus der Stalin-Zeit in der Sowjetunion. Für den französisch-jüdischen Komponisten Darius Milhaud dichtete er den Text zur Kantate "Ani Ma’amin".
Vor allem war Elie Wiesel, am 30. September 1928 in Sighetu Marmatiei (Rumänien) geboren, 1944 ins KZ Auschwitz verschleppt, dann ins KZ Buchenwald verbracht und dort am 11. April 1945 von amerikanischen Truppen befreit, der Stachel im Fleisch all jener, die sich nicht erinnern wollten, die keine Aufarbeitung betreiben, die lieber verdrängen wollten.
Elie Wiesels Stimme war die richtige für Österreich.
1985 nominierte die ÖVP Kurt Waldheim als Bundespräsidentschaftskandidaten. Wiesel, der seit 1963 in den USA lebte und als Journalist enge Kontakte nach Israel pflegte, waren mehrere dezidiert antiisraelische Entscheidungen in der Zeit Waldheims als UNO-Generalsekretär (1972-1981) aufgefallen. Als Waldheim in der Vorbereitungszeit auf die Bundespräsidentenwahl das autobiografische Buch "Im Glaspalast der Weltpolitik" veröffentlichte, stutzten nicht nur österreichische Journalisten: Auch Wiesel bemerkte, dass Waldheim die NS-Zeit vorsichtig gesagt: nur auszugsweise behandelt. Er berichtet zwar von seiner Zeit in der Wehrmacht, macht aber keine Angaben zu seinen Tätigkeiten von 1942 bis 1945. Im März 1986 erwies sich, dass Waldheim als SA- und NSDStB-Mitglied geführt und zeitweise unter General Friedrich Stahl und dann im Generalstab Löhrs tätig gewesen war - in Einheiten, die Kriegsverbrechen verübt hatten. In einer Art Justamentstandpunkt entschieden sich die Österreicher damals für Waldheim, der die Stichwahl am 8. Juni 1986 gewann. In der Folge wurde Waldheim außenpolitisch zur lahmen Ente, da die Mehrzahl der westlichen Staaten den diplomatischen Kontakt mit ihm mied. Daran änderte eine Historikerkommission nichts, die 1988 "kein persönliches schuldhaftes Verhalten" und "keine Beteiligung an Kriegsverbrechen" Waldheims feststellte - aber er hatte Kenntnisse davon.